Neue Leben: Roman (German Edition)
jetzt sah es schäbig aus, unästhetisch. Michael stopfte als letzter seinen Stimmzettel in die Wahlurne und sah sehr ernst auf den Thälmann-Pionier herab, der ihm drei Nelken mit viel Grün überreichte. Der Handschlag nach dem Pioniergruß war lasch und feucht. Nun, da jeder einen Nelkenstrauß hatte, begann der Applaus.
Draußen wurden die vier Erstwähler stürmisch empfangen. Alle, die vor dem Wahllokal anstanden, hatten sich ihnen zugewandt und spendeten herzlichen Beifall.
Michael war wie betäubt. – Ich dachte, die sind sauer auf uns.
– Warum denn? – Tina lachte. – Warum sollen die denn sauer auf uns sein?
– Ich dachte halt … – Michael hatte Rolf erkannt, der wie wild klatschte. Michael nickte ihm zu und lächelte gequält. Rolf hingegen schien bester Laune zu sein und machte ihm ein Zeichen mit der rechten Hand, die er unterm Gürtel hin und her bewegte, wobei Daumen und Finger immer wieder wie ein Maul zuschnappten.
– Ist das dein Kumpel? – fragte Tina.
– Na ja, Kumpel, wir waren zusammen in der Schule.
– Sag ihm, daß er ein Ferkel ist, mit schönem Gruß von mir. Ein richtiges Ferkel!
– Wegen der vier …
– Der will, daß du mich in den Hintern kneifst. Siehst du das nicht?
– Ach, der tut nur so.
– So ein Ferkel! Der ist neidisch.
– Neidisch?
– Klar doch. Aber wir haben es uns verdient!
Michael zählte die geöffneten Knöpfe an ihrer Bluse. Es waren tatsächlich vier. Er hatte die Wette verloren. Aber dafür sah er den Ansatz ihrer Brüste, den Schatten zwischen ihnen.
Tina lächelte.
– Du bist selbst ein Ferkel! – Ihre Augen leuchteten wieder. Die Leute wollten einfach nicht aufhören zu klatschen.
– Winken, winken! – flüsterte sie.
Michael begann, seine rechte Hand hin und her zu bewegen.
– Na siehste, Mischa, es geht doch! – rief Tina.
Michael war es unangenehm, weil seine Finger klebten. Aber das störte beim Winken nicht. Und so bewegte er weiter seine rechte Hand hin und her.
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[Brief vom 28./29. 4. 90]
TITUS HOLM
EINE NOVELLE AUS DRESDEN
1
Titus Holm ging quer über den Schulhof, in der Rechten die Schultasche, links, etwas tiefer, den Sportbeutel, der ihm gegen den Unterschenkel schlug. Es war wieder wärmer geworden, die Blätter flimmerten gelb und orange in der Nachmittagssonne. Er hätte seine Kutte ausgezogen, wäre der Wind nicht gewesen, der ihn mal von vorn, mal von der Seite anfuhr und den Chorgesang, der aus einem offenen Fenster des Probenraums kam, wie eine defekte Schallplatte klingen ließ. Erst als Titus an dem rostigen Fahrradständer vorbei durchs Tor lief, hörte er eine Melodie heraus.
Er wandte sich nach rechts. Am Fuße des schmiedeeisernen Gitters, das die Kreuzschule und das Internat der Kruzianer umschloß und dessen Spitzen sich wie Flammenzungen schlängelten, waren noch die Spuren des Drahtbesens zu erkennen, mit dem er gestern das Laub zusammengerecht hatte. Anfangs war es ihm unangenehm gewesen, gerade hier, wo man ihn vom Internat aus beobachten konnte, seine VMI -Stunden ableisten zu müssen.
»Ruf mich, wenn es vorbei ist«, hatte ihm Joachim nach der letzten Stunde zugeflüstert. Titus blieb vor dem Internat stehen und sah durch den Zaun zu Joachims Fenster hinauf, dessen linker Flügel geöffnet war. Titus wäre jetzt am liebsten weitergegangen.Er hatte es sogar eilig. Was sollte er ihm denn sagen? Daß er eine Stunde im Keller vor Petersen gesessen hatte, oder eine halbe Stunde oder vielleicht auch nur zwanzig Minuten?
Als Mario, der vor ihm zu Petersen in den Keller gemußt hatte, wieder ins Klassenzimmer gekommen war und gerufen hatte: »Der nächste bitte!« – war Titus, der auf seinem Platz inmitten der hochgestellten Stühle gewartet hatte, zu aufgeregt gewesen, um auf die Uhr zu sehen. Er war der letzte der Jungen aus der 9s.
Mario war den Fragen von Titus ausgewichen, bis Mario schließlich fast maulend erklärt hatte, er wolle doch nicht egoistisch entscheiden und sein Leben nicht nur für sich selbst beanspruchen, sondern etwas für die
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