Neue Schuhe zum Dessert
herumläuft.
Obwohl wir nicht mehr zusammenlebten, sah Ema Anton häufig. An den meisten Tagen ging er mit ihr nach der Arbeit in den Park, und in der Nacht von Samstag auf Sonntag schlief sie bei ihm. Nach den ersten paar Besuchen, als seine Augen vor Schmerz ganz trüb waren, ertrug ich es nicht, ihn zu sehen, und ich bat Irina, ob sie ihm aufmachen könnte, wenn er kam, um Ema abzuholen, und wenn er sie zurückbrachte. Irina war damit einverstanden, und ich war ihr äußerst dankbar. Diese Abmachung funktionierte gut, bis Irina eines Abends, vielleicht drei Wochen nach der Trennung, im Bad war, als er klingelte, und ich die Tür aufmachen musste, um Ema reinzulassen.
»Lily.« Anton war schockiert, als er mich sah. Und ich, als ich ihn sah. Er war schon immer dünn gewesen, aber in den letzten Wochen war er regelrecht hager geworden. Auch ich lief nicht unbedingt Gefahr, als Model von der Straße weg engagiert zu werden. (Ohne Irinas großzügige Handhabung des Porenverkleinerers hätte ich einen komplett neuen Kopf gebraucht.) Ema sauste in die Wohnung, und wenige Sekunden später hörte ich die ersten Töne von Das Dschungelbuch.
»Ich hatte nicht gedacht, dass ich dich sehen würde …«, sagte Anton. »Guck mal …« Er fummelte in seiner Lederjacke herum und zog einen Brief hervor. Der war so zerdrückt, dass er aussah, als wäre er seit Wochen in seiner Tasche gewesen. Er hatte mir regelmäßig meine Post mitgebracht, aber dieser Brief war anders. »Der Brief ist von mir. Ich wollte ihn dir persönlich geben, weil ich sichergehen wollte, dass du ihn auch bekommst. Du wirst ihn jetzt nicht lesen wollen, aber vielleicht ein andermal.«
»Gut«, sagte ich steif und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte den Brief lesen, aber eine innere Stimme hielt mich zurück. Verwirrt über diese Begegnung sagte ich Wiedersehen, machte die Tür zu und ging ins Schlafzimmer, wo ich den Brief in die Schublade legte, in der Hoffnung, ihn zu vergessen.
Ich stand an meinem Fenster im zweiten Stock und spürte, wie mein Herz bis zum Hals schlug, dann sah ich Anton aus dem Haus kommen. Wenn Irina ihm öffnete, gestattete ich mir nicht den kleinsten Blick, aber jetzt war der normale Ablauf durchbrochen, und ich blieb stehen und sah ihm nach. Er ging auf dem Gehweg entlang und blieb dann ein paar Meter hinter dem Eingang stehen, und seine Schultern fingen an zu beben, als würde er lachen. Ich starrte zu ihm hinunter und war zutiefst verletzt. Was zum Teufel gab es da zu lachen? Ihn zu sehen, hatte mich furchtbar verstört, und er fand es lustig? Plötzlich verstand ich, dass er nicht lachte, er weinte. Weinte, dass es ihn schüttelte. Ich trat entsetzt zurück, und in dem Moment dachte ich, die Traurigkeit würde mich umbringen.
Ich brauchte den Rest des Abends und eine viertel Flasche ziemlich scharfen Wodka, um mein Gleichgewicht wiederzugewinnen. Aber dann war das überstanden. Ich begriff, dass die Schmerzen unausweichlich waren. Anton und ich waren verliebt gewesen, wir hatten zusammen ein Kind, und wir waren beste Freunde gewesen, vom ersten Moment an. Das Ende von etwas so Kostbarem konnte nur furchtbar sein. Aber irgendwann würde der Schmerz aufhören, und dann würden Anton und ich Freunde sein. Ich musste einfach nur Geduld haben.
Ich wusste, dass mein Leben eines Tages ganz anders sein würde, voller Gefühle und Freunde und Fröhlichkeit und Farben, und wahrscheinlich mit ganz anderen Menschen. Ich war mir absolut sicher, dass es eines Tages einen anderen Mann und Kinder und einen neuen Job und ein richtiges Zuhause geben würde. Ich hatte keine Ahnung, wie ich von dem kleinen, kargen Leben, das ich jetzt hatte, zu dem farbenfrohen Leben, das ich mir vorstellte, gelangen sollte. Ich wusste nur, dass es geschehen würde. Doch im Moment war es ganz weit weg und gehörte einer anderen Lily, und ich hatte es nicht eilig, dahin zu kommen. Meine Passivität war so groß, dass ich keines Schuldgefühls gegenüber Irina fähig war, die mir in ihrer endlosen Großzügigkeit ein Dach über dem Kopf gab und Emas Versorgung übernahm. Normalerweise wäre ich total unglücklich gewesen und hätte Pläne geschmiedet, möglichst schnell wieder wegzukommen, und mich als Schnorrer gefühlt, wenn ich nur das Licht anschaltete.
Manchmal musste ich mir Geld von ihr leihen – meine Tipparbeiten wurden unregelmäßig bezahlt –, aber auch das beschämte mich nicht. Normalerweise gab sie es mir ohne Kommentar, aber
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