Neue Zeit und Welt
schaute sich im Kreis um, schnupperte, schien plötzlich ebenfalls einen Eindringling wahrzunehmen. Nachdem er eine Minute lang den Kopf auf die eine oder andere Seite gelegt und die Nüstern gebläht hatte, zeigte der Zentaur in eine dunkle Senke, wo die leisen Atemzüge hörbar waren. Ollie nickte. Sie standen beide auf und näherten sich dem Winkel aus verschiedenen Richtungen. Beauty hob seinen Bogen.
Aus einer Entfernung von sieben Metern entzündete Ollie eine von Jasmines Fackeln und warf sie in die Richtung der Geräusche. Der blendendrote Lichtschein erhellte die ganze Rückseite der Höhle samt dem versteckten Bewohner: Ein kleines, weißes, zottiges Pony stand zitternd in der Senke und warf im rauchigen Licht einen Riesenschatten an die Wand.
Beauty ließ Pfeil und Bogen sinken.
»Ein Pony«, murmelte er. »Wie heißt du, Pony?«
Das Miniaturpferd blieb stumm, atmete tief und starrte geradeaus. Beauty und Ollie gingen darauf zu. Ollie fuhr mit der Hand über das Gesicht des Tieres, um den Kopf zu streicheln, aber es zuckte und blinzelte nicht.
»Es ist blind«, flüsterte Ollie.
»Ist dir kalt?« fragte Beauty.
Das Ponyweibchen schob die Schnauze vor und schnupperte an seiner Hand.
»Wie heißt du denn, Kleines?« fragte Ollie.
Es leckte Beauty zweimal die Hand. Seine Augen glichen gesprungenem Quarz und waren durchscheinend, ein wenig in Schielstellung. Sie führten es zurück, dorthin, wo die Buchleute noch schliefen, und drängten sich zu sechst zusammen, um es warm zu haben, bis der Morgen kam.
Als sie bei Tagesanbruch die Reise fortsetzten, schloss das blinde Pony sich an. Niemand forderte es dazu auf – das Ponyweibchen lief einfach mit, zwei Schritte hinter Beauty, wohin er auch ging.
Sie marschierten zuerst nach Osten, ohne am Flussufer zu bleiben, ihrem Ziel entgegen. Der Wind blieb eine Weile gemäßigt, die Sonne schien. Es gab Schildkrötenspuren, denen man folgen konnte, die verstreuten Fichten belebten die Landschaft ein wenig. Auf den Ebenen von Babar-Dün verschlechterte sich das Wetter sehr.
Weites, ebenes Grasland ohne Windschutz, abgesehen von einzelnen reifbedeckten Bäumen, die im Wind klirrten. Der Boden war hartgefroren, so dass man bei jedem Schritt wegrutschte. Und der Schnee lag so hoch, dass sie alle paar hundert Meter ihre Kompasse zu Rate ziehen mussten, um sich zu vergewissern, dass sie immer noch nach Osten gingen.
Ab und zu blieb das blinde Pony stehen, zerschlug mit den Vorderhufen den eisigen Schnee und rupfte an dem Moos, das darunter wuchs; es holte die anderen ein und lief wieder hinter Beauty her.
Im Verlauf des Tages setzte der Wind sich immer stärker durch. Ellen war so durchgefroren, dass sie zu weinen begann; in ihrem ganzen Leben hatte sie eine solch schmerzhafte Kälte noch nicht erlebt. Beauty riet ihr zwar, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, ihre Schritte zu zählen, an etwas Schönes zu denken, aber das brachte sie nicht zustande. Sie fror zu sehr, um an etwas anderes als an die Kälte zu denken, an die eisige Luft, die sie in sich hineinsog und die bis ins Mark zu dringen schien. Der Wind peitschte heulend den trockenen Schnee in Pulverwellen über die Ebene. Die Landschaft sah aus wie ein Geisterozean auf einem verlorenen Planeten. Lichtjahre vom nächsten Stern entfernt. Kalt, unendlich kalt.
Und es wurde noch kälter. Bäume und Gestrüpp hörten gänzlich auf. Michael spürte Arme und Beine nicht mehr. Der Boden war zu einer weißen, glatten Fläche geworden, die sich in alle Richtungen erstreckte, diffus zum Himmel hinaufleuchtete, ohne Horizont. Der Himmel war so blendend hell, dass man nicht einmal die Sonne genau erkennen konnte. Und was von ihr sichtbar war, erinnerte an Trockeneis.
Die Zeit verrann immer langsamer, als gerate sie durch die Elemente in Erstarrung. Mit der Zeit kamen sogar die Gedanken zum Stillstand.
Nach mehreren Stunden waren die inneren Reserven von einigen Reisenden fast aufgezehrt. Ollie hatte die Arme um den Körper geschlungen und später die Hände in die Taschen gesteckt, jedem unerwarteten Angriff schutzlos ausgesetzt. Trotzdem fror er. Die drei Bücher konnten kaum noch gehen und blieben mit jedem Schritt weiter zurück. Sogar Beauty stolperte von Zeit zu Zeit, die Füße gefühllos, die Beine steif. D’Ursu schien am wenigsten betroffen zu sein, er stapfte Schritt für Schritt dahin, gleichmäßig, wenn auch ohne Energie. Nur das blinde Pony zeigte keine Anzeichen von Müdigkeit und trieb durch
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