Neue Zeit und Welt
Geröllhöhle, gerade als der Wind zu heulen begann.
Schnee fiel als dünnes, trockenes Pulver, das kaum lag, bevor es in wilden Wirbeln davongeweht oder wieder in den Himmel hinaufgepeitscht wurde. Aba schlang die Flügel fest um sich und die beiden Menschen, aber bald klapperten ihm die Zähne, und die Lippen des Paares wurden blau. Er tastete nach ihrem Puls. Bei beiden war er stark. Er blickte auf ihre Gesichter: rosig unter dem Reif, wirkten sie engelhaft. Er fiel beinahe in Ohnmacht vor Schwäche, und bei dem Gedanken daran, was er mit diesen unschuldigen Wesen tun musste. Behutsam presste er den Mund auf den Hals des Mannes, biss rasch zu, die Zähne nadelgleich.
Der Mann zuckte einmal, als seine Ader durchbohrt wurde, sank aber augenblicklich in erschöpften Schlaf zurück. Aba trank lange aus der Halsschlagader, die Augen geschlossen, genoss jeden Schluck, so, wie ein erfrierender Wanderer mit einer Tasse heißen Rum neues Leben in sich hineinschüttet. Er hörte auf, nachdem er einen Liter getrunken hatte, obwohl er noch immer hungrig war – er wollte den Mann nicht töten, nur sich selbst retten. Er gedachte von beiden gleich viel zu trinken, damit keiner zu sehr ausgesaugt wurde.
Er drückte minutenlang auf den Hals des Mannes, damit die Blutung zum Stillstand kam. Dann befasste er sich mit dem eigenen Arm. Die Wunde war nicht sehr tief, und die Ränder begannen sich schon zu schließen. Er warf einen Blick auf die Frau, die ihn verletzt hatte. Wie ihr Gefährte schlief sie, gleich einem Soldaten nach der Schlacht – der Schlaf eines Wesens, das sich völlig verausgabt hatte.
Aba leckte den Schnee von ihrem Hals. Der Wind hatte nachgelassen, der Schnee begann sich wie ein Leichentuch auf alles zu legen. Er drückte die Zähne auf die große blaue Ader an ihrem Hals, verweilte dort, sog ihren warmen Körpergeruch in sich ein, fuhr mit der Zunge über ihre Haut, biss endlich zu.
Die Lider der Frau zuckten hoch, ihr Körper warf sich herum, sie versuchte sich loszureißen. Aba hielt sie fest und saugte so rasch, wie es ging. Die Frau ächzte und wimmerte, ihre Hände an seinem Gesicht, wollte ihn wegschieben. Er umklammerte ihren Hals, das Gebiss zugeklappt, hielt ihren Kopf fest. Sie bäumte sich auf dem harten Boden zwei-, dreimal auf und lag endlich still. Während des ganzen Vorgangs wurde der Mann neben ihr nicht wach.
Aba saugte der Frau das Blut ab, bis er sich ausreichend gesättigt fühlte. Dann drückte er wie bei dem Mann auf ihren Hals, um die Blutung zu stoppen. Lange Minuten saß er da und weinte lautlos. Der Wind kam wieder auf, bis die Tränen an seinem Gesicht gefroren.
In der folgenden Stunde sammelte er Brennholz und Kräuter, machte Feuer mit seinem Drachenzahn-Feuerstein und etwas Stoff. Er fand einen schalenförmigen Stein und kochte Tee aus Schnee und Kräutern. In den Stunden danach ließ er die Menschen immer wieder von dem heißen Getränk kosten, wärmte ihnen Hände und Füße, pflegte sie, so gut er konnte.
Als endlich die Nacht hereinbrach, hüllte er sie in seine Schwingen ein, und so schliefen sie alle drei, Leib an Leib in dem großen Lederkokon am rasch erlöschenden Feuer.
Als Aba erwachte, war es früher Morgen und taghell. Er öffnete vorsichtig die Flügel, schob sich unter seinen beiden Mitschläfern heraus, stand auf und schüttelte den Schnee ab.
»Auf, auf, ihr Schlafmützen!« rief er den beiden am Boden zu. »Ich muss weiter, und ihr könnt eures Weges gehen!«
Aber sie regten sich nicht. Er kniete nieder und schüttelte sie, ohne Erfolg. Er tastete nach ihrem Puls. Sie waren tot.
In der Nacht erfroren. Steif und kalt. Sie sahen aus wie umgestürzte Statuen.
Aba starrte sie an und versuchte die Welle des Selbstekels aufzuhalten, die ihn überfluten wollte. Nein, er musste stark sein. Alles hing jetzt von ihm ab. Er betastete die beiden Phiolen an seinem Hals – in der einen waren die Zellen der Kind-Königin, im anderen kleinen Gefäß war Paulas Blut. Seine Amulette. Sie verliehen ihm Kraft. Sie waren verbunden mit den Ursachen für Lons Tod und Paulas Liebe. Um die beiden Menschen hier unmäßig zu trauern, hätte bedeutet, alles aufzugeben.
Er warf keinen Blick mehr auf die Toten, schwang sich in die Luft und flog nach Norden und Osten.
Er war den ganzen Tag unterwegs und kam bei unterschiedlichem Wind verschieden schnell voran. Zuerst hinweg über die nördlichen Sattelberge, dann über die großen Ebenen oberhalb des Waldes der Tränen.
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