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Neue Zeit und Welt

Neue Zeit und Welt

Titel: Neue Zeit und Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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beteiligen. Man hatte mehrere Räume dafür reserviert, die langen Tische mit Tintenfässern, Gänsekielen und Stapeln leerer Papierblätter ausgestattet, und andere Räume dienten der Aufbewahrung der Unterlagen zusammen mit ihren Inhaltsverzeichnissen.
    Zu jeder Zeit wurde am Wörterbuch geschrieben – entweder führte man neue Wörter an oder ergänzte die alten um neue Sinnerklärungen. Wenn die Leute nicht in den Höhlen damit beschäftigt waren, zogen sie umher und suchten nach langversteckten Bänden, rekrutierten neue Schreiber für ihre Sache, bespitzelten in den Tierstädten Feinde des Wortes oder arbeiteten in ihrem kostbaren Weingut oder in den sorgfältig gepflegten Pilzgärten. Aber meistens blieben sie in den Höhlen und schrieben, planten den Sturz der Königin, lasen und schrieben wieder.
    Neben dem großen Schreibsaal gab es eine kleine Höhle, in der oft Besprechungen abgehalten wurden. Hier saßen Paula, Michael und Ellen und unterhielten sich mit Addie und David.
    Addie war eine schon sehr alte Frau. Ihr Haar war schütter, ihre Haut hatte die Beschaffenheit eines vertrockneten Apfels. Sie war fast blind und besaß große Macht – ihr niedergeschriebener Wortschatz war größer als der jedes lebenden Schreibers.
    David war ein junger, angespannt wirkender Mann mit Nickelbrille und einer dicken Schreibschwiele am Mittelfinger der rechten Hand, woran er ständig zupfte. Er sah Paula, die gerade das Wort hatte, scharf an.
    »… heißt es in Ma’Gas’ also, dass die Königin ein hohes Kopfgeld für jeden Menschen bezahlt, der an Krampfanfällen leidet. Ich bin sicher, dass es bei dieser Entführung darum ging, sonst hätten sie ihn umgebracht.«
    »Aber du hast gesagt, dass du ihn kennst.« David verengte die Augen.
    »Ja, aber ich weiß einfach nicht, woher.« So etwas störte sie mehr, als dass es sie verwirrte – sie mochte es nicht, wenn sie etwas nicht wusste. Nur Wilde waren unwissend.
    »Du könntest ihn den Angestöpselten beschreiben«, schlug Ellen vor. »Manche von denen hatten auch Anfälle – jedenfalls, bevor man sie angeschlossen hat.«
    David nagte mit den Zähnen an seiner Schwiele.
    »Hört zu, ich glaube, unsere Hauptsorge sollte der Tatsache gelten, dass die Königin nach einer langen Pause wieder das Netz nach Menschen ausgeworfen hat. In ganz großem Maßstab. Ob Paula den Mann kennt, ist nicht von Bedeutung.«
    »Da gebe ich dir nicht recht«, widersprach Michael. »Wenn Paula ihn kennt, ist der junge Mann ein gutes Buch.«
    »Und?« gab David gereizt zurück.
    »Wir sollten in die Stadt gehen, bevor man ihn operiert.«
    »Wir sind nicht soweit«, sagte David mit Nachdruck.
    »Ich bin bereit«, sagte Michael. »Ellen ist bereit. Die Hälfte der Angestöpselten ist bereit. Der wortarme Fisch, den ich zum Abendessen gefangen habe, war bereit. Was meinst du mit ›Wir sind nicht bereit‹?«
    Ein alter Streit drohte sich wieder zu entzünden. David wollte stets genauer planen, weitere Vorbereitungen treffen, alle Möglichkeiten erwägen; Michael wollte handeln. In der Regel war Paula dazwischengetreten, um zu verhindern, dass es zu einer Rauferei kam – nur ihretwegen waren sie bereit, ihre Zänkereien einzustellen. Was Paula selbst betraf, so empfand sie eher neutral – was David und Michael ebenso anging wie die Fragen, die sie so erhitzten. David war von Vorbehalten und Einschränkungen so besessen, dass er nie zu einer Entscheidung fähig zu sein schien; Michael las das Material zu einem Thema, bis er sich langweilte oder müde wurde, und fällte seine Entscheidung dann auf irgendein Gefühl oder eine Laune hin, die mit den eben gelesenen Wörtern gar nichts zu tun hatte. Paula war mit beiden Methoden nicht einverstanden.
    Sie traf Entscheidungen rasch – gestützt auf Gefühle, gewiss, aber auf solche, die durch ihre Lektüre entstanden waren. Das war für Paula eine der machtvollsten Eigenschaften der Wörter – Empfindungen zu erzeugen. Das war ein Grund, warum Poesie eine solche Macht besaß. Sie konnte die endlose Debatte zwischen David, Michael und den anderen deshalb nicht verstehen. Die Stadt anzugreifen, die Festung zu erstürmen, nichts zu tun und abzuwarten … alles Energievergeudung. Ihr schien klar zu sein, dass sie lesen sollten, was es zu lesen gab, eine schnelle Entscheidung treffen und danach handeln mussten. Wenn sich dann ein Erfolg nicht einstellen wollte, konnte man etwas anderes versuchen. Aber dieses ganze Gerede lenkte sie nur ab. Sie konnte

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