Neue Zeit und Welt
nie eine Königin gegeben, das war eine Lüge – ihr habt nur die Gehirne der gefangenen Menschen, angeschlossen an euren Computer, Königin genannt.« Josh war sich in Wirklichkeit nicht klar darüber, was ein Computer sei, aber so hatte Jasmine ihm das erklärt. Er empfand Unsicherheit, als seine Befrager sich rasch beruhigten.
»Wer hat dir das gesagt?« knurrte Bischof Ninjus.
»Gabriel«, gab Josh zurück. Er versuchte ruhig zu sprechen, aber seine Angst flutete wieder hoch. Gabriel war der ENGEL, den Josh vor fünf Jahren neben dem Raum mit dem Namen ›Vereinigung‹ überrascht hatte, gleich nachdem er Rose von dem Kabel in ihrem Kopf befreien konnte. Gabriel hatte erklärt, es gebe keine Königin – die neue Intelligenz, die die Stadt beherrsche, sei einfach der Zusammenschluss aller versklavten Menschengehirne, von einem Computer integriert. Jasmine hatte ihm später Erläuterungen zum Computer gegeben, aber genau kannte Josh sich immer noch nicht aus.
Nun fiel ihm auch ein, dass Rose zu dem Thema kaum je etwas zu sagen gehabt hatte und fast jedes Mal ausgewichen war. Josh hatte angenommen, ihre Zurückhaltung habe Ähnlichkeit mit der von Ollie, entspringe also einem Wunsch, das ganze zu vergessen – bis zu ihrem letzten Besuch bei Josh. Auf einmal hatte sie immer wieder von der Königin gesprochen, so, als gäbe es wirklich eine, eine reale Person, nicht nur einen Saal voll angeschlossener Gehirne. Was hatte sie in jener Nacht gesagt?
»Josh, ich brauch dich. Komm mit mir zur Stadt.«
»Ich kann nicht«, hatte er zurückgegeben. »Dort ist nichts für mich.«
»Ich bin dort«, hatte sie erklärt. »Ich bin dort und warte auf dich. Komm mit, komm mit, ich bitte dich.«
Seltsam, dachte Josh nun, wie merkwürdig das alles geklungen hatte, beinahe so, als sei sie gar nicht seine Rose. Und in derselben Nacht hatte sie ihm seinen Helm weggenommen, und die Anfälle hatten begonnen.
Josh starrte die Inquisitoren an.
Nachdem sie sich kurz miteinander besprochen hatten, standen sie auf. Die Vampire hatten noch immer kein Wort gesagt. Sie gingen auf Joshua zu und blieben auf beiden Seiten stehen, während Fleur eine Metallkappe auf den Kopf des Menschen setzte und irgendwelche Messungen vornahm. Josh blieb regungslos sitzen, so betroffen, dass er kaum zu atmen wagte. Er dachte immer wieder: Das Wort ist groß, das Wort ist eins.
Nachdem sie sich eine halbe Stunde lang mit ihm beschäftigt hatten, gingen sie, und bis Josh sich umsah, wurde er in seine Zelle zurückgebracht.
Fleur und Elspeth verließen den Raum in gedrückter Stimmung.
Von allen ENGELN in der Stadt ohne Namen war Fleur der empfindlichste. Er war freilich ein Neuromann und hatte es sich angelegen sein lassen, bei seiner eigenen Konstruktion die elegantesten Lösungen zu wählen. Dünn und zart, bewegte er sich wie eine kühle Brise an einem dunklen Ort. Seine Haut war von durchsichtigem Rosa, so dass Licht von Sonne oder Mond direkt sein Körperinneres bestrahlte und feinziselierte Schatten an dem zarten Netz der Nerven warfen, die seine Glieder wie das Flechtwerk von Laub durchzogen. Dies war Fleur.
Elspeth war ein anderer Fall. Sie war die Chefin der Ersten Neuromensch-Genetik-Erfinder-Liga und nahezu unfassbar beleibt. Ihre äußeren Körperteile waren bewusst im krassen Gegensatz zueinander hergestellt worden – eine Riesenhand, die andere verkümmert, asymmetrische Augen und eine missgestaltete Nase in einem verformten Gesicht. Der Sinn: Sie hatte sich selbst in der Art eines Unglücksfalls konstruiert, um in allen Wesen, denen sie begegnete, Furcht und Abscheu zu erregen und sie überdies zu veranlassen, ihre Intelligenz zu unterschätzen. Die Tarnung war erfolgreich. Sie hatte dadurch viele Kriege und Intrigen überstanden und zwei Jahrhunderte lang ihre Stellung im Machtzentrum halten können. Bis sie endlich hier zur Ruhe gekommen war, um als Chefberaterin der Königin in der Stadt ohne Namen über die Zukunft der Welt zu bestimmen. In ihrem langen Dasein hatte sie nur wenige Freunde gehabt.
Fleur war ihr Freund. Nach allem eigentlich eine wenig nahe liegende Kombination, aber es war nun einmal so. Sie tauschten Hoffnungen, Eindrücke und Blicke aus wie ein altes oder ganz junges Liebespaar. Und der größte Traum, an dem sie gemeinsam hingen, betraf die neue Welt, die sie erschufen.
»Göhning ologlu dor«, murmelte Elspeth, als sie ihre Zimmer erreichten. Im Lauf der Jahre hatte sie sich eine eigene Sprache angewöhnt,
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