Neue Zeit und Welt
»Das heißt, ich glaube es wenigstens. Ich glaube, er war ein Schreiber, der vor Jahren zu uns nach Ma’Gas’ kam und seine Familie suchte. Er wollte unsere Hilfe. Wir baten ihn statt dessen, er möge sich unserem Kreuzzug anschließen. Nein, sagte er, er müsse zuerst seine Familie finden – seine Frau, seinen Bruder.«
»Wie ging es weiter?« Seine Stimme klang schwach wie eine niedrig brennende Flamme.
Im Gewisper des orangeroten Feuers zuckte sie mit den Achseln.
»Wir wurden überfallen. Lewis geriet in Gefangenschaft und tauchte nie mehr auf. Wir anderen flohen. Der Schreiber – er hieß Joshua – entkam ebenfalls, wohin, weiß ich nicht. Damit er fünf Jahre später vor meinen Augen überfallen und in die Stadt verschleppt werden konnte.«
Kerzenflamm legte den Arm um seine Freundin, um Körper und Seele zu wärmen.
»Es ist unser trauriges Schicksal auf dieser Erde, allein zu sein.«
Paula hielt mit einem schiefen Lächeln eine Träne zurück.
»Außer, wir könnten verschmelzen«, rügte sie ihn leise.
»Außer, wenn wir verschmelzen«, sagte er mit einem Nicken und lachte leise über ihre Stichelei.
Sie legte den Kopf an seine Schulter. Er spürte den Schatten ihrer Trauer. Sie dachte: Es ist also doch nicht wahr. Jeder von uns ist eine Insel.
Er strich über ihr Haar.
»So allein, kleine Schreiberin. Ich würde dich anschließen, wenn ich könnte – dann könnten wir wirklich Zusammensein.«
Sie drückte ihn stumm an sich und wünschte, dass es so sein könnte. Wir sind wie wahllos verstreute Wörter, dachte sie. Wir versuchen, Sinn in uns zu entdecken, aber es gibt ihn gar nicht, wir sind nicht definiert. Wir versuchen zusammenzustehen, uns zu zusammenhängenden Sätzen und sinnvollem Ganzen zu ordnen – aber was herauskommt, ist wirr. Als einzelne Wörter werden wir geboren, als einzelne sterben wir wieder.
Sie flüsterte ihm zu: »Hauptwörter sind wir, auf der Suche nach einem Verb.«
»Klingt wie ein Gedicht aus einem deiner Bücher«, meinte Kerzenflamm versonnen.
»Ist es auch.« Sie nickte verträumt. Zuletzt war das immer wieder ihre Zuflucht.
»Ich verstehe deine Poesie nicht so ganz, aber sie erinnert mich an das Angeschlossensein. Beides will Berührung.« Er legte die langen Arme um sie.
Im Hintergrund brieten die anderen Aale und sprachen von der Zeit der Vereinigung.
»Mag sein«, gab sie zu. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe es einfach satt, im Schatten dieser Festung zu leben.«
»Ihr Schatten verdunkelt alles«, bestätigte Kerzenflamm.
»Er hat uns Einigkeit gegeben – wir hatten die Dunkelheit gemeinsam, wir suchten miteinander nach dem Licht. Jetzt wandert jeder für sich durch diese Finsternis, die niemals aufhört. Wir stoßen zusammen, und jeder geht seines Weges.«
»Manche von uns halten sich in der Dunkelheit noch immer an den Händen.« Er seufzte und zog sie fester an sich.
»Ich habe früher mit meinem Bruder Händchen gehalten«, erinnerte sie sich. »Wir waren Waisen in Ma’Gas’, ich war zehn und er sieben Jahre alt. Wir lebten in den Gassen, immer auf der Flucht. Unterwegs versteckten wir uns, stahlen und rauften mit den kleineren Tieren um Nahrung. Unsere Eltern wurden von einer betrunkenen Harpyie getötet, und wir hatten nur uns. Und so saßen wir da und hielten uns an den Händen fest. Ich weiß noch genau, wie wir unter den Kais hockten und auf den Sonnenuntergang warteten – wir hielten uns an den Händen und warteten darauf, dass die Nacht uns verbarg.«
Sie verstummte, um die Erinnerung in sich wirken zu lassen, sie festzuhalten und zu zergliedern. Hinter ihr warf das Feuer Schatten an die Wand, wie Gespenster aus ihrer Geschichte.
»Wo ist dein Bruder jetzt?« fragte Kerzenflamm.
»Verschwunden. Von Piraten entführt – Russenlupinos. Inzwischen wird er wohl tot sein, nehme ich an.«
»Aber ich dachte, ihr Schreiber legt schriftlich nieder, was mit euren Liebsten geschieht – damit sie nie sterben, solange andere Schreiber von ihnen lesen. Das hast du mir einmal erzählt.«
In Paulas Augen glänzten Tränen.
»Nathan hat mich gebeten, seine Geschichte nie aufzuschreiben. Er fürchtete, wenn er tot sei und das auf dem Papier stehe, sei es endgültig … aber wenn nie jemand vom Tod etwas erwähne, könne er vielleicht doch noch einen Weg finden, zurückzukommen – wenn es nicht niedergeschrieben sei, dann vielleicht auch nie geschehen. Und so habe ich nie etwas aufgeschrieben.« Sie seufzte tief, um nicht zu
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