Neue Zeit und Welt
ihrem Ohr und trank einen Schluck aus dem Glas. Das wiederholte er mehrmals. Als das Glas leer war, drückte er ihr Ohrläppchen, bis die Blutung aufhörte, schickte sie fort, leckte sich die Finger ab und schaute zum Fenster hinaus. Die aufgehende Sonne spiegelte sein Bild in der Scheibe wider. Als er sich herumdrehte, glühten seine violetten Augen. In seiner Kehle entstand ein grollendes Geräusch.
Der Tag versprach herrlich zu werden.
Beauty bekundete Interesse am Erziehungssystem für die Stadtbewohner – in der Hoffnung, wenn eines zum anderen führte, werde man ihm die Forschungsbereiche zeigen, wo Josh sich jetzt aufhalten mochte. Der Führer – ein Neuromann namens Ondin – war beeindruckt von Beautys klaren, sachlichen Fragen und zeigte ihm am zweiten Vormittag eine Tagesschule für Vampirkinder.
Es waren vier Vampirschüler, zwischen sechs und sechzehn Jahren, drei Jungen und ein Mädchen. Sie saßen in einem kleinen Klaßzimmer, vor sich aufgeschlagene Bücher, während die Lehrerin laut vorlas. Die Lehrerin war eine Vampirin, ungefähr im zwanzigsten Monat schwanger – also kurz vor dem Gebären. Sie verstummte, als Beauty und Ondin hereinkamen.
»Bitte, fahr fort«, sagte Ondin zu ihr. »Wir wollen nur zusehen.«
»Wir sind gerade fertig«, sagte die Lehrerin und klappte ihr Buch zu. Die vier Schüler starrten den Zentaur und das Neurowesen an. »Aber wir gehen jetzt zu Gols Konfirmation. Ihr könnt zusehen, wenn ihr wollt.«
»Gern, gern«, sagte Ondin. »Gehen wir.«
»Vorher müssen wir uns bereitmachen«, sagte die Lehrerin. »Geht ihr nur schon. In zehn Minuten soll die Zeremonie im Tempel beginnen. Schüler?«
Die Schüler standen auf und gingen mit ihr durch einen Nebenausgang hinaus.
Ondin lächelte Beauty an.
»Hier entlang«, sagte er. Beauty folgte ihm zum Hinterausgang. Als sie einen langen Spiralgang entlanggingen, der leicht anstieg, sagte Ondin: »Wir haben für solche Ereignisse im Westflügel einen Vampirtempel. Zwar möchten wir gern auf lange Sicht über diese primitiven Rituale hinwegkommen, aber vorerst tragen sie noch dazu bei, den Vampirkindern ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu verleihen – Kulturerbe und dergleichen mehr.«
»Wir hatten bei den Zentauren auch Rassenbräuche«, erklärte Beauty, »aber keine unmittelbar religiösen. Außer dem Himmel kannten wir keinen Tempel.«
»Gewiss, gewiss.« Ondin nickte. »Die Vampire sind aber erheblich älter als die Zentauren, soviel ich weiß, und ihre Zeremonien sind vom Menschlichen deshalb stärker beeinflusst.«
Beauty zuckte bei dem Hinweis auf die genetische Neuheit seiner Art ein wenig zusammen und zog sich aufs Sachliche zurück.
»Welcher Art ist das Ereignis, das wir sehen wollen?«
»Das älteste Reifungsritual der Vampire – die Zahn-Zeremonie. Jedes Vampirkind unterzieht sich im Alter von zehn Jahren, wenn die letzten Milchzähne verschwunden sind und die Fangzähne der Erwachsenen auftreten, dieser Feier. Es ist eigentlich ein sehr schöner Vorgang – manchmal habe ich das Gefühl, dass ich als Neuromensch dergleichen am meisten vermisse. Ah, hier sind wir schon …«
Sie erreichten einen Türbogen und traten ein. Sie befanden sich in einem kreisrunden Raum von etwa zwölf Metern Durchmesser, zur Hälfte mit Bänken ausgestattet. An einem Ende stand ein Altar. Die vier Kinder standen dort, in rote Gewänder gekleidet. In der ersten Reihe saßen mehrere Erwachsene. Neben dem Altar stand ein großer, narbengesichtiger Vampir in festlicher Kleidung. Beauty fiel besonders auf, dass er im Gegensatz zu den meisten seiner Art weder sehr sauber noch gutaussehend, sondern trotz der Prachtgewänder ziemlich schäbig war. Es war Ugo.
Beauty und Ondin blieben an der Rückseite der Kapelle stehen, während Ondin leise Erklärungen gab.
»Die Vampirkinder sind sehr bevorzugte Wesen – sie dürfen hier in der Festung wohnen und lernen. Im allgemeinen dürfen hier nur Neuromenschen herein.«
Beauty wusste nicht, ob das als Beleidigung oder Kompliment für ihn aufzufassen war, obschon festzustehen schien, dass die Bemerkung auf ihn gemünzt sein musste.
»Gewiss«, sagte er knapp.
»Sie werden eigens dafür ausgebildet, die Vertreter der Königin in verschiedenen Angelegenheiten zwischen Neurowesen und Tieren zu sein, die sich in der Neuen Welt entwickeln«, fuhr Ondin fort. »Aus diesem Grund erhalten sie eine eigene Ausbildung, werden aber gleichzeitig auch in den Fächern ihrer eigenen Art
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