Neue Zeit und Welt
Kreisläufe und Nahrungsbedürfnisse verleihen keine grenzenlosen Rechte. Wir sollten Wesen der Vernunft sein – nicht des Zwanges.«
»Gewiss. Nichtsdestoweniger – alle Kreaturen leben, weil andere sterben. Dieses Spannungsverhältnis ist der Sinn des Lebens. Für jeden Menschen, der stirbt, um Euren Gaumen zu befriedigen, vergeht ein Fisch im Magen eines Menschen. Und wie viele Kleeblätter sterben jeden Tag kreischend, wenn ein Kaninchen sie zermalmt?«
»Wir essen alle, um zu leben? Mag sein«, sagte Aba achselzuckend. »Vielleicht leide ich an dem Problem, dass ich mit meiner Speise in zu enger Verbindung stehe.«
Osi lachte leise.
»Letzten Endes ist das eine Frage der inneren Identität. Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß, ein Vampir zu sein, ist weder gut noch böse – es ist. Es gibt gute und böse Vampire, sicherlich – das ist eine Frage persönlichen Willens und Gewissens. Aber sobald man diese Entscheidung getroffen hat, muss man sich an dem erfreuen, was man ist weshalb sonst auf der Welt sein?«
»Und wie soll man sich an dem Leid erfreuen, das man hervorruft?«
»Das soll natürlich nicht heißen, wir sollten nicht Mitgefühl mit dem Zustand des Menschen haben – obwohl ich Euch raten möchte, eines nie zu vergessen: Es waren Menschen, die uns gemacht haben. Wir sind ein Produkt ihrer Technologie und Träume. Wir sind ihre Schöpfungen. Nun, sie haben sich selbst so gebettet, und bei meinem Blut, der Vampir braucht sich daran keinen Tropfen Schuld beizumessen.« Seine Stimme wurde am Ende laut und verriet echte Empfindung. Der Ausbruch machte ihn jedoch verlegen, und er trank einen Schluck aus seinem Glas, um sich zu beruhigen.
Aba spürte Osis Betroffenheit und schwieg kurze Zeit, damit der Gastgeber sich fassen konnte. Er blickte wieder zum Fenster hinaus und sagte leise: »Was ich nicht ertragen kann, ist die Stärke meiner Lust.«
»Genießt Eure Lust, Sire. Sie ist Euer Schicksal.«
Aba tippte sich mit dem langen Nagel des Zeigefingers an die Schläfe.
»Das ist mein Schicksal«, sagte er und lächelte mehr wehmütig als triumphierend.
»Ihr seid noch jung.« Osi leerte sein Glas. Sein Blick fiel auf die beinahe seidige Weichheit der Flügel seines Gastes. Impulsiv streckte er die Hand aus und berührte das weiche, flaumige Leder, dann zog er rasch die Hand zurück, als sei er bei Unziemlichem ertappt worden.
Aba lächelte unsicher. Er trat zwei Schritte auf die Tür zu.
Osi läutete mit der Silberglocke auf dem Schreibtisch.
»Ja, ich habe zuviel gefaselt. Wenn Ihr jetzt geht, muss ich mich schämen.«
»Nein, bitte, ich muss wirklich gehen. Es ist schon sehr spät, glaube ich.«
Ein Haremsmädchen kam herein, nackt bis auf die hundert Smaragde und einen Brillanten, in einem fließenden Muster in ihre Haut eingenäht. Sie kniete zwischen ihnen nieder und bot den Hals dar.
»Wollt Ihr nicht noch ein bisschen bleiben?« sagte Osi zu Aba. »Nur zu einem Gute-Nacht-Schluck.«
Aba fuhr mit der Zunge über die Zähne.
»Nein, danke. Ihr seid sehr liebenswürdig gewesen, Sire.« Er senkte den Blick.
»Nun gut. Das Vergnügen lag auf meiner Seite. Geht guten Bluts.«
»Geht guten Bluts, Sire Osi«, sagte Aba.
Sie entblößten voreinander die Hälse, und Aba verließ das Zimmer.
Osi lehnte sich an die geschlossene Tür. Seine Hand zitterte ein wenig.
»Wer ist dieser schöne Sire, der mir den Atem benimmt?«
Das Haremsmädchen mit den Smaragden kroch auf allen vieren heran und wand sich um Osis Bein.
»Wenn ich ihn Euch nur auch benennen könnte!«
Er streichelte ihren Kopf.
»Er ist sich meiner nicht unbewußt – und doch, wie kühl er blieb. Ich gestehe, Denise, ich bin sehr beeindruckt.«
Denise zog sich an ihm hoch und öffnete sein Gewand.
»Dann bleibt, wo Ihr seid, Sire, und ich will Euch auch beeindrucken.«
Er schloss die Augen unter ihrer Zärtlichkeit, während vor seinem inneren Blick das Flattern weicher Lederschwingen die samtige Schwärze rötlich färbte.
Kapitel 11
Worin zweimal eine wagemutige
Flucht gelingt
O llie saß in einer dunklen Ecke der Buchereihöhle und entlockte seiner Bambusflöte traurige Töne. Jasmine saß ein paar Meter von ihm entfernt vor einem kleinen Feuer und brütete vor sich hin.
Addie kauerte an einem niedrigen Tisch bei einem Eingang und schrieb. Im Nebenraum redeten Michael und Ellen aufgeregt von irgendeiner obskuren Fußnote in einer kürzlich entdeckten überarbeiteten Auflage. Alle anderen Buchleute
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