Neues Glück für Gisela
so große Affäre.“
„Bewahre! Ein scheuendes Pferd aufzuhalten und ein Menschenleben zu retten…“
„Jetzt aber Schluß mit dem Quatsch! Man sollte kaum glauben, daß du sonst ein nüchterner Mensch bist. Wer sagt denn, daß ich Rolfs Leben gerettet habe? Der Karren hielt sich doch auf dem Weg, und…“
„… und wie lange hätte er das wohl getan, wenn du nicht eingegriffen hättest? Gut, laß uns sagen, die Chancen waren halb und halb, also fünfzig Prozent dafür, daß Rolf herausgestürzt und somit tot wäre, dann neunundvierzig Prozent dafür, daß er schwer zu Schaden gekommen wäre und ein Prozent dafür, daß er unverletzt geblieben wäre, ohne dein Eingreifen. Und…“
„Und damit wäre das Thema ausdebattiert“, unterbrach Gisela. „Rolf lebt, und ich lebe, und das Pferd lebt, und der Karren ist hoffentlich auch noch am Leben, also laß uns endlich etwas anderes finden, worüber wir reden können.“
„Was mich betrifft“, sagte Willi, „so muß ich rechnen. Ich muß heut unser Monatsbudget in Angriff nehmen. Außerdem habe ich einen Sünder, mit dem ich ein ernsthaftes Wort sprechen muß, was nebenbei das Schlimmste ist, was ich mir denken kann.“
„Was hat der Ärmste denn angestellt?“
„Der Ärmste? Ja, er ist ein feiner ,Ärmster’! Nun ja, es ist natürlich nur ein Bubenstreich, aber den kann man nicht stillschweigend durchgehen lassen. Einer meiner hoffnungsvollen Zöglinge hat den gestrigen Nachmittag mit dem Sohn des Nachbarhofes verbracht, von dem wir die Milch bekommen, weißt du? Die beiden wurden in der Scheune erwischt, mit einem Päckchen Zigaretten und Streichhölzern. In der Scheune, mitten im Heu! Ich muß dem Sünder noch den Kopf waschen, ehe er geht. Er soll in einer Stunde in der Schule sein, und ich darf kein Gras über seine Missetat wachsen lassen. Er soll seine Strafe haben, je eher desto besser.“
„Willi“, Gisela schluckte, „… mußt du… ihn schlagen?“
„Ihn schlagen? Gott bewahre, wie kommst du auf den Gedanken?“
„Ja, du sagst doch, er soll seine Strafe je eher desto besser bekommen?“
„Es gibt doch andere Strafen. Nein, schlagen, das tue ich nie.“
„Nie? Bringst du es fertig, achtundzwanzig wilde Jungen ohne Schläge zu erziehen?“
Willi blickte sie an, und Röte stieg ihm in die Wangen. Es dauerte einen Augenblick, bis er antwortete.
„Ich weiß nicht, ob ich ja oder nein antworten soll. Aber ich will dir gern erzählen, wie ich von dieser Strafmethode kuriert wurde. Es war kurze Zeit, nachdem ich Leiter des Heimes hier wurde. Da war ein kleiner Schlingel, der wirklich ganz was Ausgesuchtes ausgefressen hatte. Ich war böse, das kann ich dir flüstern. So bewaffnete ich mich mit einem Rohrstock, es lag einer von früherer Zeit hier, und legte den Jungen über und gab ihm ein paar kräftige Schläge. Aber dann… dann fühlte ich, wie sich sein Körper wand und krümmte, und plötzlich schlug es bei mir ein: Was hast du da getan? Du versündigst dich gegen das elementarste Gesetz unter anständigen Jungen: du schlägst einen, der kleiner und schwächer ist als du selbst.
Weißt du, Gisela, ich glaube, ich habe mich niemals so sehr geschämt wie damals. So ließ ich den Jungen los und bat ihn um Verzeihung, sagte ihm, ich hätte mich hinreißen lassen und sähe es jetzt ein, daß ich schäbig gehandelt hätte. Dann verbrannten wir den Rohrstock im schönen Einverständnis, und der Missetäter bekam statt dessen Fußballverbot. Seither habe ich niemals mehr ein Kind geschlagen und werde es, mit Gottes Hilfe, auch nie wieder tun. Aber glaube nur nicht, daß ich ein Heiliger bin. Ich kann stinkwütend werden, und ab und zu muß ich die Fäuste in den Hosentaschen ballen und langsam bis zehn zählen. Aber es lohnt sich. Die Jungen machen natürlich immer ihre Lausbubenstreiche und bekommen auch Strafe dafür, aber geschlagen werden sie nicht. Und ich habe das Wichtigste von allem erreicht: sie haben Zutrauen bekommen, haben keine Angst vor mir, und – sie lernen selbst auch nicht schlagen.“
Gisela lauschte. „Willi“, sagte sie langsam, „ich bewundere dich. Und ich bin so glücklich wegen der Jungen, daß unter allen Menschen auf der Welt ausgerechnet du der Leiter hier bist!“ Willi lachte.
„Ich bin nicht sicher, ob mein Freund Per in fünf Minuten dasselbe sagen wird“, schmunzelte er. „Denn in fünf Minuten wird er die traurige Nachricht vernommen haben, daß er nicht an dem Leichtathletikkampf teilnehmen
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