Neues Glück für Gisela
gegen sich selber in dieser Stunde. Und aus ihrem gepeinigten ehrlichen Herzen kam ein flüsternder Seufzer: „Ich liebe dich, Willi, aber ich habe kein Recht darauf…“
Unten im Keller, in der Werkstatt, stand Willi mit ein paar der größeren Jungen und wies an und erklärte. Sie waren mit einer Arbeit beschäftigt, die bis Weihnachten fertig sein sollte und mußte. Eine Arbeit, in der sie mit Leib und Seele aufgingen.
Aber die Jungen fanden, daß Willi heute anders als sonst war. Er war wohl freundlich und nett und hilfreich wie immer, aber seine Augen waren nicht so blank, und die Stimme hatte nicht den gewohnten munteren, gutgelaunten Klang.
Er hantierte mit Rechteckschiene, Zimmermannsbleistift und Säge, aber die ganze Zeit über schob sich ein eleganter blauer Morgenrock ein und ein Lederkoffer voll farbiger Hoteletiketten dazwischen.
Dann hörte er eine Stimme, die sagte: Du hast etwas, um das ich dich beneide, nämlich eine wunderbare Aufgabe hier im Leben.
Nun, sie hatte wohl recht. Also mußte er sich auf diese Aufgabe konzentrieren. Bloß darauf. Und auf sonst nichts.
Tante Gigi
„Tante Gigi, kannst du nicht auch das andere Märchen erzählen?“
„Welches meinst du denn, Tommi?“
„Das von dem kleinen Schneiderlein, den beiden Hosen und der Prinzessin weißt du.“
Gisela lächelte. Tommi, das älteste der Kleinkinder, wurde nie müde, vom „klugen Schneiderlein“ zu hören.
„Aber das kannst du doch auswendig, Tommi.“
„Ja, aber erzähl es trotzdem, Tante Gigi. Bitte, bitte.“ Sie standen und saßen um sie herum, der kleinste Bub war auf ihrem Schoß eingeschlafen, mit dem Däumchen im Mund. Es tat wohl, die Wärme und Schwere des kleinen Körpers zu fühlen. Gisela behielt ihn behutsam im Arm, darauf bedacht, seinen Schlaf nicht zu stören. „Es ist bald Mittag, Tommi.“
„Also mach schnell, damit wir es noch hören, ehe es gongt.“
„Ja, nun gut. Du mußt mir helfen, Tommi, wenn ich etwas vergesse. Also, es war einmal eine Prinzessin…“
„Gewaltig stolz“, fuhr Tommi mit glänzenden Augen fort. Und so erzählten sie abwechselnd das Märchen, das sie Wort für Wort kannten.
Es war Giselas letzter Tag auf Siebeneichen. Heute nachmittag sollte sie heimfahren und morgen wieder mit der Schule beginnen. Es eilte nun, denn die Weihnachtszensur stand vor der Tür.
Sie war heute zum erstenmal vollständig angezogen, ihre Wunden waren geheilt, und die blauen Flecke waren in ein fahles Gelb übergegangen. Wenn sie das Haar etwas über die eine Schläfe zog, konnte sie das Schlimmste verbergen. Die Tür wurde geöffnet. Gisela lächelte Willi entgegen.
Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die Gruppe dort beim Fenster. Er nahm sie mit einem Blick in sich auf, die leuchtenden Augen der Kinder und den Kleinen, der friedlich in ihren Armen schlief.
Aber es war kein freundliches Lächeln auf Willis Gesicht. Es war so sonderbar barsch und verbissen.
Dann sprach er, und sein Ton war angestrengt, abgehackt. „Na, Märchenstunde?“
Tommi antwortete mit glänzenden Augen: „Ja, Tante Gigi erzählt von der Prinzessin…“
„Ach“, sagte Willi, „ist das eine Selbstbiographie?“
Gisela sah ihn forschend an. Es lag etwas Böses in der Luft. Aber sie zwang sich zu lächeln und versuchte leicht und natürlich zu sprechen. „Und dann kommt das Schneiderlein und kriegt die Prinzessin“, lächelte sie. „Das sollte das Schneiderlein lieber bleibenlassen“, sagte Willi. „Eine Ehe zwischen einer Prinzessin und einem Schneiderlein ist eine Mesalliance.“
„Was heißt das?“ wollte Tommi wissen.
„Fragt Tante Gigi“, antwortete Willi. Dann richtete er sich auf, gerade so, als ob er etwas abstreifen wollte. „Wirst du heute mit uns zusammen Mittag essen, Gisela?“
„Klar, versteht sich. Ich bin doch nicht mehr Patient.“
„Das wollte ich bloß wissen. Und jetzt will ich nicht länger stören, ich…“
Der Kleine auf Giselas Schoß erwachte, rekelte sich ein bißchen, legte dann sein Köpfchen vertrauensvoll gegen ihre Brust, um weiterzuschlafen.
Noch einen Augenblick sah Willi sie an. Sein Gesicht verdunkelte sich, wurde beinahe feindlich. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging hinaus.
„Nein, wie fein ihr alles hergerichtet habt!“
Gisela blieb in der Tür zum Speisesaal stehen. Die Tische waren heute mit richtigen Tischtüchern gedeckt, und es duftete lecker aus der Küche nach gebratenem Fleisch.
Vor Giselas Teller stand
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