Neues Glück für Gisela
verabschiedet hatte – es war ihr freier Tag, und sie sollte den Abend in Hoyfoss verbringen – , hatte Gisela keine Ruhe mehr. Sie war so über alle Maßen froh! Und eine brennende Sehnsucht kam über sie: nach den Buben, nach Siebeneichen und – nach Willi. Sie mußte heute sofort noch hinfahren nach Siebeneichen – bloß auf einen kurzen Besuch – und wenn es auch nur auf eine Stunde war.
Sie telefonierte nach einem Taxi, und einige Minuten darauf sauste sie den wohlbekannten Weg dahin.
Und nun erlebte Gisela etwas, worum ein allzu freundliches Geschick sie in ihrer zeitigen Jugend betrogen hatte. Als Sechzehn- bis Siebzehnjährige hatte sie vor einem Stelldichein nie Herzklopfen gehabt, nie die Röte in die Wangen steigen gefühlt vor lauter gespannter Erwartung. Nie hatte ein süßer Schauer sie durchzuckt beim Anblick einer geliebten männlichen Gestalt auf der Straße. Nie war sie so vor Jubel zusammengefahren, wenn das Telefon klingelte. In Giselas früher Jugend war es ja nur Andreas gewesen, alles war so selbstverständlich, ruhig, friedlich und gut. Man bekommt keine süßen Schauer beim Anblick eines Menschen, den man sein ganzes Leben gekannt hat.
Aber nun schlug ihr Herz rasch und fieberhaft, jetzt kam und ging die Röte in ihren Wangen, denn nun brachte das Taxi sie jede Sekunde näher nach Siebeneichen und zu Willi. Willi, der noch nie gesagt hatte, daß er sie liebte, der es auch nicht sagen durfte, denn wenn er es sagte, war sie genötigt, ihn abzuweisen und ihm zu sagen, daß sie sich weder verheiraten konnte noch wollte.
Sie schob den Gedanken daran wieder von sich, so wie sie es unzählige Male zuvor getan hatte. Das war ein Problem, für das es keine Lösung gab, eines, das sie schmerzte. Nicht daran denken. Sich bloß freuen, daß sie ihn wiedersehen, seine Stimme hören und seine Nähe fühlen durfte.
Er kam gerade vom Kaninchenstall und schritt über den Hofplatz, als das Taxi vor dem Haus anfuhr. „Oh, Gisela, du bist es! Wie nett!“
„Du siehst keine Spur erstaunt aus, daß ich plötzlich angetrudelt komme – mitten im Weihnachtstrubel.“
„Nein, erstaunt bin ich nicht. Ich wußte es sofort, daß du es bist, als ich das Taxi sah. Damit kommt sonst niemand nach Siebeneichen.“
Da war wieder dieser Unterton in der Stimme, den Gisela nicht mochte. Sie bedauerte, daß sie das Taxi nicht auf der Landstraße hatte halten lassen und das letzte Stück zu Fuß gegangen war.
„Ich mußte doch einmal sehen, wie es euch geht, und ich war so fleißig in den letzten Tagen, daß ich fand, ich habe einen freien Nachmittag verdient. Komme ich ungelegen?“
„Ich höre wohl nicht recht? Du und ungelegen? Da solltest du bloß mal ins Spielzimmer gehen und die Kleinen fragen. Die quengeln ununterbrochen, daß Tante Gigi wiederkommen soll.“
„Ich sehne mich richtig nach den Kleinen.“ Im Spielzimmer wurde sie mit Freudengeschrei empfangen. Die Kleinen verlangten sofort ein Märchen, und Gisela mußte sich losreißen, um ihren Mantel auszuziehen.
„Tante Gigi, ist das wahr, daß du am Weihnachtsabend bei uns bist?“
„Ja, Kinder, das ist wahr. Wir werden einen schönen Weihnachtsbaum haben und Weihnachtslieder singen und zusammen essen! Ich freue mich darauf, das könnt ihr mir glauben.“
„Wir uns auch.“
„Habt ihr Lust, daß ich euch dann auch wasche, ausziehe und schlafenlege?“
„Ja“, jauchzten sie im Chor. „Ja, ja.“
„Versprichst du da nicht zuviel?“ Willi lächelte ihr zu. Sie erhob sich aus der Kniebeuge – sie hatte sich zu den Kleinen hingekauert – , glättete ihren Rock und lächelte zu Willi zurück.
„Nein, das ist wirklich wahr. Ich werde zwei Tage lang Kindermädchen sein und Schwester Ruth vertreten. Was meinst du dazu?“
Das Lächeln verschwand von Willis Gesicht. Es kam ein zorniges Blitzen in seine Augen.
„Was soll das heißen?“
„Daß Schwester Ruth gern zwei Tage freihaben will und ich ihr versprochen habe, sie zu vertreten.“
In Giselas Stimme war jetzt eine fragende Unsicherheit gegenüber dem Ausdruck in seinen Augen.
„Das bedeutet also…“ Er brach ab. „Sei so gut, komm auf einen Augenblick mit mir.“
Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Gisela ging hinter ihm den Korridor entlang in sein Büro. Auf einmal kam sie sich wie ein unartiges Schulmädchen vor, das seiner Missetaten wegen ins Büro des Rektors beordert worden war. Warum war Willi so böse?
Er drehte sich zu ihr um, sobald die Tür geschlossen
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