Neugier ist ein schneller Tod - Neugier ist ein schneller Tod - A Mortal Curiosity
die Miss Roche gesehen hat.«
Lucy erschauerte und schob ihren Teller von sich, ohne aufgegessen zu haben.
»Sie werden das sicherlich nicht mit ansehen wollen, meine Damen«, fuhr Mrs. Williams in forschem Ton fort. »Ich schlage vor, Sie machen so lange einen Spaziergang.«
Ich beugte mich über den Tisch zu Lucy, die mit niedergeschlagenem Blick dasaß, und erinnerte sie daran, dass sie mir versprochen hatte, mir ein wenig von der Umgebung zu zeigen.
»Oh ja!« Sie blickte lebhaft auf. »Wir können sofort gehen, wenn Sie bereit sind. Ich muss nur meinen Hut holen!« Sie sprang von ihrem Stuhl hoch und eilte aus dem Zimmer.
Ich wollte ihr folgen, doch Williams, die geblieben war, berührte mich am Arm und hielt mich auf.
»Sie werden sie nicht zurückbringen, bevor Sie sicher sind, dass derRattenfänger wieder weg ist?«, fragte die Haushälterin leise, während ihre Augen suchend in mein Gesicht blickten. »Sie hat ein so sensibles Wesen. Es würde ihr nicht guttun, Brennan bei der Arbeit zu sehen.«
»Ich werde darauf achten, vertrauen Sie mir.«
Der mürrische Gesichtsausdruck der Haushälterin wurde weicher. »Danke sehr, Miss.«
Ich war überrascht angesichts ihrer Besorgnis und dachte, dass wenigstens eine Person in diesem Haus an Lucys Wohlergehen interessiert war. Ich ging, um meine Sachen zu holen.
Obwohl es noch recht früh am Tag war, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, und die Luft war frisch und warm. Wir spazierten durch das Tor auf die Straße und bogen nach links ab.
»Das ist der Weg ins Dorf«, sagte Lucy. »Obwohl es dort nicht viel zu sehen gibt. Wir haben keine nennenswerte Gesellschaft. Meine Tanten würden sowieso nicht daran teilnehmen, selbst wenn es eine gäbe, deswegen macht es keinen Unterschied.«
Sie sagte es beinahe fröhlich, als wäre sie selbst ebenfalls froh über das Fehlen der üblichen gesellschaftlichen Runde auf dem Land, der Besuche, der Kartenspiele, der Krocket-Partien, der Wohltätigkeitsbälle, alles in der gleichen kleinen und beschränkten Gesellschaft. Wie oft sie Shore House wohl verließ? Wahrscheinlich niemals ohne die Begleitung einer ihrer Tanten.
Und jetzt war ich hier, um sie von dieser Bürde zu entbinden. Ich sah sie einmal mehr von der Seite an. Der breitkrempige Hut, den sie trug, war mit blauen Satinbändern unter ihrem Kinn festgebunden, die zu ihrem Kleid passten, und Bänder wie Kleid spiegelten die Farbe ihrer Augen wider. Im Schatten der Hutkrempe hatte ihr Gesicht eine Lebendigkeit, die ihre Schönheit noch verstärkte. Ich überlegte, ob ich mir insgeheim gratulieren sollte, weil ich vorgeschlagen hatte, spazieren zu gehen, und ob es vielleicht doch nicht so schwierig werden würde, Lucy aus ihrer Melancholie zu holen.
»Können Sie denn nicht Ihren Onkel Charles in London besuchen?«, fragte ich, weil mir plötzlich diese Idee kam und ich sie füreinen ausgezeichneten Einfall hielt. Eine lebhafte große Stadt mit ihren zahlreichen und sehr unterschiedlichen Ablenkungen waren einer nonnenartigen Abgeschiedenheit wie in Shore House sicherlich vorzuziehen.
»Ich fühle mich nicht gesund genug, um zu reisen.« Alle Lebhaftigkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie sprach flach und tonlos mit einer Stimme, die nicht zum Widerspruch herausforderte.
Ich hatte nicht mit der Plötzlichkeit gerechnet, mit der sich ihre Stimmungen ändern konnten. Es war falsch gewesen anzunehmen, meine Aufgabe würde einfach werden. Jeder einzelne Satz an Lucys Adresse stellte, was den Sprecher anging, ein Vabanquespiel dar. Vielleicht gewann man, vielleicht verlor man.
Mit ihrer letzten Antwort gab sie, wie ich vermutete, lediglich eine Meinung wieder, die andere zum Ausdruck gebracht hatten. Wir marschierten recht munter voran, und ich muss gestehen, dass sie in meinen Augen absolut gesund wirkte, zumindest physisch. Die mentale Seite musste ich natürlich erst noch genauer beobachten, doch bisher erschien sie lediglich einsam und unglücklich, eine Beschreibung, die auf eine beliebige Zahl von Menschen zutrifft. Würde man sie alle verrückt nennen und einsperren, wäre das ganze Land voller Irrenanstalten. Vielleicht war es das ja? Wie dem auch sei, ich würde nicht zulassen, dass Lucy weggesperrt wurde, weder in Dr. Lefebres luxuriöse Version von einer Anstalt für Reiche noch in irgendeine andere. Möglicherweise bestand meine erste Aufgabe darin, Lucy selbst zu überzeugen, dass sie nicht krank war. Doch ich würde damit warten, bis
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