Neugier ist ein schneller Tod - Neugier ist ein schneller Tod - A Mortal Curiosity
nach in Charles Roches geheimem Versteck im Schreibtisch gefunden hatte. Er nannte es wahrscheinlich »Erotika«, und dort, wo ich herkam, nannte man es »schmutzige Bücher«.
»Ich bin überrascht, dass Ihr Onkel seine Sammlung nicht unter Verschluss aufbewahrt, sondern sie herumliegen lässt, so dass ein Kind sie finden kann!«
»Oh, aber er hält sie unter Verschluss«, versicherte mir Lucy. »Ich habe ihn beobachtet, wie er den Schlüssel versteckt hat. Er legte ihn in eine blau-weiße Vase auf dem Kaminsims in seinem Arbeitszimmer. Ich wartete, bis er aus dem Haus war, dann holte ich den Schlüssel aus der Vase und schloss die Schublade auf.«
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen, auch wenn es kaum wünschenswert erschien, dass eine Zwölfjährige die erotische Sammlung ihres Onkels in Augenschein nahm. »Und?«, fragte ich. »Haben Sie die anderen Bücher ebenfalls gelesen? Nicht nur die Tagebücher?«
»Ja, natürlich. Oder zumindest hab ich mir die Bilder angesehen, hauptsächlich. Einige der Bücher waren in Französisch geschrieben,aber die Sorte von Französisch, die man uns in der Schule beibrachte, enthielt nicht die richtigen Wörter.«
Das Bild des wohlhabenden, rechtschaffenen Charles Roche stand vor meinem geistigen Auge. Wahrscheinlich sperrte er sein Arbeitszimmer von innen zu, bevor er seine private Lektüre aus der Schublade nahm, um nicht von einem Diener überrascht zu werden oder sogar von seiner umherwandernden Nichte. »Es ist eine Art … eine Art Hobby, das manche Gentlemen haben«, sagte ich. »Es würde ihn furchtbar verlegen machen, wenn er wüsste, dass Sie sie gesehen haben.«
»Er hätte die Schublade nicht abschließen sollen«, erwiderte Lucy mit einfacher Logik. »Wäre sie nicht abgeschlossen gewesen, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, sie zu öffnen. Abgesehen davon wird Tante Christina Sie immer und immer wieder an die hohen Ansprüche bezüglich des Benehmens erinnern, die von sämtlichen Familienmitgliedern erwartet werden und von jedem, der mit uns in Beziehung steht. Respektabilität bedeutet keine peinlichen Dinge, die unter den Teppich gekehrt werden. ›Ein Platz für alles und alles an seinen Platz‹, das ist Tante Christinas Lieblingsmotto. Meine Sünde, Lizzie, besteht darin, dass es keinen Platz für mich gibt und niemals gegeben hat. Ich bin wie ein unfertiges Stück Stickerei, das jemand auf einem Sessel hat liegen lassen. Ich bin Unordnung. Man sollte mich aufräumen. Wegsperren. Deswegen ist Ihr Dr. Lefebre hergekommen. Um mich wegzusperren in die teure private Irrenanstalt, die er führt. Ich soll an einen Ort gesperrt werden, wo niemand mich sehen kann, genau wie die Tagebücher von John Roche.«
»Er ist nicht mein Dr. Lefebre!«, entgegnete ich in scharfem Ton.
Lucys Reaktion bestand darin, mich auf eine bereits vertraute Art und Weise störrisch anzustarren. Meine frühere Gouvernante Madame Leblanc hätte gesagt, dass ein solches Gesicht aufzusetzen nicht comme il faut war, also was sich gehörte. Welch eine eigenartige kleine Person Lucy doch war – ein Püppchen nach außen hin, doch bei näherem Hinsehen alles andere als unbeschädigt.
Ich konnte nicht behaupten, dass mir die Vorstellung gefiel, dassDr. Lefebre nicht nur ein Spezialist auf seinem Gebiet war, sondern darüber hinaus eine eigene Anstalt führte. Andererseits wusste ich überhaupt nichts über die Situation, wie mir der Doktor klar zu verstehen gegeben hatte. Wenn Lucy verwirrt genug war, um zu glauben, dass ihr Baby noch lebte, konnte sie sich durchaus einbilden, Dr. Lefebre wäre gekommen, um sie in sein privates Tollhaus mitzunehmen. Ich wusste, dass sich junge Menschen gegen jedes vernünftige Argument in eine Idee verrennen konnten. Und wenn Lucy sich erst einmal auf eine Meinung versteift hatte, würde sie nicht mehr ohne weiteres davon ablassen. Mir fiel auf, dass sie trotz aller Redseligkeit ihren Ehemann bisher mit keinem Wort erwähnt hatte – genauso wenig wie ihr Kind. Zumindest Letzteres war – angesichts ihres angeblichen Wahnsinns – merkwürdig.
Jetzt war nicht der Augenblick, um darüber zu reden. Wie dem auch sein mochte, die Haushälterin Mrs. Williams unterbrach uns.
»Es tut mir leid, wenn ich stören muss, Mrs. Craven – und Miss Martin ebenfalls –, aber Mr. Brennan möchte gerne anfangen. Er wartet mit einem seiner Hunde in der Küche und möchte das Tier hier drin loslassen, um herauszufinden, ob es die Ratte wittern kann,
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