Neugier und Übermut (German Edition)
verteidigte seine Bombe langatmig. Schließlich sagte er: »Was machen denn konventionelle Waffen? Nur eine Meile von hier, wo wir jetzt sind, steht ein Veteranen-Hospital der US-Regierung. Ich will Sie jetzt nicht einladen, mit mir dorthin zu fahren und sich mal anzuschauen, was konventionelle Waffen anrichten. Aber wir wissen es ja. Die Glieder werden abgerissen und so weiter und so fort. Wie kann man die Neutronenbombe ablehnen, wenn wir normale Atomwaffen in Europa liegen haben, die Menschen verbrennen, verstümmeln und einem noch schrecklicheren Tod oder gar Leben aussetzen?«
Dann entschuldigte er sich für einen Moment, er müsse die Toilette aufsuchen.
Ich habe lange gezögert und überlegt, ob ich in diesem Zusammenhang nun eine äußerst peinliche, ja, wie ich finde, fürchterliche Geschichte aus Sams Jugend erzählen soll. Sie sagt einiges darüber aus, warum er so geworden ist, wie ich ihn kenne. Doch da er später in hohem Alter selber ausführlich in seiner von ihm selbst verfassten Biographie auf seine Mutter und diese spezielle Erziehungsmethode, die er wiederum Folter nennt, eingeht, will ich auch davon berichten.
Mutter Cohen war überzeugt, dass langsame Verdauung oder gar Verstopfung allmählich den Körper tödlich vergiften würden. »Ihre anale Überzeugung«, so Samuel Cohen, war für sie eine Glaubensfrage. Und die teilte sie mit ihrem Sohn, sobald der alt genug war zu verstehen, was sie sagte. Sam wurde erklärt, dass er sich in Todesgefahr befinde, wenn er nicht häufig und auch ausgiebig Stuhlgang habe, und er glaubte es. Würde er ihre Vorgaben, was die Ernährung betraf, nicht befolgen und an Fäkalvergiftung sterben, dann würde auch sie, seine geliebte Mutter, sterben, aus Trauer um ihren Sohn.
Also gehorchte er ihr aus Liebe.
Um sicherzugehen, dass er auch ständig auf die Toilette ging, wurde Sam peinlichen Verhören unterzogen. Er musste seiner Mutter dabei gerade in die Augen schauen, damit sie sehen könnte, ob er lüge. Wenn ein Spiel- oder Schulkamerad mit Sam sein Pastrami-Sandwich gegen etwas tauschte, dass er von zu Hause nicht mitbekam, und seine Mutter merkte es, dann musste er sofort ins Badezimmer, ein Brechmittel schlucken und alles ausspucken.
»Das ist ein klassisches Symptom für Strahlenkrankheit durch eine starke Dosis Neutronen«, erklärte Sam Cohen dazu ironisch. Auch starker Durchfall sei eine Folge der Vergiftung durch eine Neutronenbombe.
Den Durchfall verursachte seine Mutter immer wieder durch Medikamente, die Sam in den Hintern gepumpt wurden. Mit der Zeit wurden ihm täglich Gemüsesäfte eingeflößt, um den Stuhlgang zu beleben. Und wenn die Säfte nicht ausreichend wirkten, dann verabreichte sie ihm Abführmittel.
Wenn Sam mit Kindern spielte und ihn plötzlich »das Bedürfnis« überkam, schaffte er es nicht immer nach Hause. Wegen des Gestanks zogen sich immer mehr seiner Spielkameraden zurück, sodass er sich aussätzig wie ein Leprakranker fühlte. Als er dann eingeschult wurde, begann für ihn ein wahres Martyrium. Manche Lehrer ließen Sam während des Unterrichts nicht austreten. Und wenn er dann nicht an sich halten konnte, litten die Mitschüler unter dem Mief, bis er nach Hause geschickt wurde. Seine Mutter putzte ihn brav und wusch die Hosen. Aber sein Vater war nicht so tolerant, und wenn der Junge wieder mal mit vollgeschissenen Hosen nach Hause kam, konnte der, wie in einem Zornesausbruch, das Gesicht seines Sohnes in die Hose drücken. – Eine Kindheitserinnerung, die ihn nie mehr verließ.
In der High School begann Sam sich dann für Naturwissenschaften zu interessieren und war besonders gut in Chemie. Sein Chemielehrer schlug deshalb vor, er solle zusammen mit anderen aus seiner Schule an einer Prüfung teilnehmen, bei der die ersten vier oder fünf von mehreren Hundert ein Stipendium für ein Hochschulstudium erhielten. Er büffelte wie wahnsinnig für das Examen.
Am vorgesehenen Morgen holte ihn der Chemielehrer mit einigen anderen Klassenkameraden ab und fuhr ihn zur Prüfung. Wie üblich hatte seine Mutter ihn mit besonders viel Karottensaft vollgepumpt, um alles Gift aus seinem Körper zu entfernen und seine geistige Kraft zu stärken. Er wäre dann noch besser als sonst.
Bevor das Examen begann, wurde den Schülern erklärt, sie dürften den Raum für einen Gang zur Toilette erst nach der Hälfte der Zeit verlassen, um zu verhindern, dass sie abschrieben. Kaum hörte Sam diese Worte, begann er sich zu verkramp- fen.
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