Neugier und Übermut (German Edition)
lerne, schickte das Militär mich nach kurzer Grundausbildung in Texas an das Massachusetts Institute of Technology.« Das MIT gilt als eine der bedeutendsten technischen Hochschulen der Welt.
Im Gegensatz zum warmen Kalifornien wird es an der Ostküste im Winter grässlich kalt. Darunter litt Sam fürchterlich, was wiederum mit seiner Mutter zu tun hatte. Schon mit wenigen Monaten, die Familie lebte noch in Brooklyn, hielt ihn seine Mutter während des bitterkalten Winters jeden Tag unter einen kalten Wasserhahn. Diese »Kälteschock-Therapie« musste er jahrelang ertragen. Als er älter wurde, stand er dann stundenlang unter der warmen Dusche. Aber zum Abschluss musste er immer noch einige Minuten lang kaltes Wasser ertragen. Als die Familie in Los Angeles wohnte, ging sie, wie einem Ritual folgend, zu jeder Jahreszeit an den Strand. Sam badete also auch mitten im Winter im kalten Pazifik. Trotzdem ging er stets davon aus, dass seine Mutter ihn nur aus Liebe misshandelte.
»Sie können sich vorstellen, dass ich im Lauf der Zeit eine außerordentliche Abneigung gegen Kälte entwickelte.«
Noch in hohem Alter sagte Sam: »Was meinem körperlichen Wohlbefinden dienen sollte, war in Wirklichkeit Folter.«
»Am kältesten Tag im Januar 1944 schwänzte ich den Unterricht beim MIT, weil ich nicht durch den Eiswind in den Unterricht gehen wollte«, erzählte er, »denn aus irgendeinem perversen Grund verboten die Regeln der Armee, dass wir im akademischen Umfeld Ohrenschützer anlegten und Schals vor dem Gesicht trugen. Da flog plötzlich die Tür zu meinem Zimmer auf, und der Sergeant schrie: ›Okay, Cohen, heb deinen Arsch, zieh dich an und melde dich.‹«
Ein paar Tage später war der dreiundzwanzigjährige Samuel Cohen in Los Alamos im warmen Texas und arbeitete unter Robert Oppenheimers Führung am Manhattan-Projekt, dessen Ergebnis die Bomben von Hiroshima und Nagasaki sein würden.
Cohen spezialisierte sich in Los Alamos auf den Bereich Strahlenforschung, und von da an war sein Berufsweg vorgezeichnet. Den Rest seines Lebens würde er darüber nachdenken, wie man Strahlen militärisch einsetzen kann.
»1951 wurde zum Wendepunkt meines Lebens«, sagte er, nahm einen Schluck und schaute über den frisch gemähten Rasen. »Das Pentagon schickte mich nach Korea auf eine geheime Mission. Ich sollte meine Meinung über einen möglichen Einsatz von Atombomben in diesem Krieg abgeben.«
Sam Cohen kam erschüttert aus Korea zurück, wo er in der Stadt Seoul das Leiden der Menschen nach unzähligen konventionellen Bombenangriffen gesehen hatte. Ziviles Leben war in den Ruinen nicht mehr möglich. Er sah Kinder, die Abwasser tranken, weil sie sonst verdurstet wären. Menschen streunten wie Zombies durch die Straßen. Seoul glich den Fotos von Dresden und Hiroshima so sehr, dass in Cohens Kopf die Vorstellung von einer kleinen Atombombe für das Gefechtsfeld entstand, die wenigstens die Häuser unbeschadet stehen lassen würde. Eine Bombe, die Soldaten durch die Strahlendosis sofort ausschalten und deshalb einen Krieg schnell beenden würde.
Weil Samuel Cohen ein hervorragender Mathematiker war, hatte er schon bald mit Hilfe eines Rechenschiebers, den ihm einst sein Vater zum 15. Geburtstag geschenkt hatte, alles Notwendige kalkuliert. »Den Rechenschieber benutze ich noch heute«, sagte er, ging kurz ins Haus und kam mit einem dieser weißen linealartigen Schieber zurück, wie wir sie noch beim Abitur benutzen durften. Mit elektronischen Rechnern ginge es doch viel schneller, warf ich ein. Nein, meinte Sam, »mit elektronischen Maschinen komme ich nicht zurecht«.
»Hatten Sie denn gar keine moralischen Bedenken, als Sie diese Atomwaffe entwickelten?«, fragte ich ihn.
»Keineswegs, denn die Neutronenbombe ist die moralischste Waffe, die je erfunden wurde«, antwortete er, die Bedenken hätten erst die Europäer ins Spiel gebracht.
Damit argumentierte er strikt kalifornisch. »Denn erstens wurde die Neutronenbombe nicht als Defensivwaffe für Europa, sondern als Angriffswaffe für Asien konzipiert. Allerdings haben wir seit Hiroshima einen Schuldkomplex, weshalb in Asien keine Atombombe mehr eingesetzt werden darf. Zweitens zerstört die N-Bombe weniger als konventionelle Bomben, siehe Dresden, auch weniger als Atom- oder Wasserstoffbomben, siehe Hiroshima. Oder finden Sie Napalm moralischer?«
Sam Cohen verstand seine Kritiker nicht – wirklich nicht –, und auch das konnte er erklären. Einerseits war er
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