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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Als zwei Drittel der Zeit vergangen waren, begannen die ersten Krämpfe ihn durchzuschütteln. Er versuchte, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, was ihm für eine kurze Zeit gelang. Schließlich machte er in die Hosen, bevor er den Raum verlassen durfte. Er rannte raus, hielt sich die Hose, sodass nichts herausfiel, und schoss in die nächste Toilette.
    »Ich hoffte, ich könnte mich so weit reinigen«, schrieb Samuel Cohen in seiner Autobiographie, »um zurückzukehren und zu erklären, was geschehen war. Ich wollte um Entschuldigung bitten und weitermachen. Es war nicht möglich. Ich war durch und durch verschmutzt und stank.«
    Sam zog seine Hose aus, und weil er für die Rückfahrt auf den Chemielehrer angewiesen war, wanderte er stundenlang über den Campus, jede Begegnung mit anderen vermeidend, bis die Prüfung zu Ende war und der Lehrer seine Schüler in großem Schweigen wieder zurückfuhr.
    Sam ging nie mehr in den Chemieunterricht. Trotzdem gab ihm der Lehrer am Jahresende eine »Eins« im Zeugnis. Nach diesem Erlebnis wurde aus der Liebe zur Mutter Hass. Später hat Sam seine Kinder nie mit seiner Mutter allein gelassen, aus Angst davor, was sie ihnen antun könnte.

    Sam kam fröhlich aus dem Haus und brachte, neben frisch gefüllten Gläsern, eine flache Schatulle mit.
    »Sie haben mich doch vorhin nach der moralischen Bedeutung meiner Erfindung gefragt. Schauen Sie hier«, er öffnete das Kästchen und holte eine flache Medaille heraus, »das ist die Friedensmedaille des Papstes. Die hat mir Johannes Paul II. 1979 im Vatikan persönlich überreicht!«
    So führte er zu seinen Gunsten an, dass er von der katholischen Kirche, einer höchst moralischen Anstalt, reingewaschen worden war.
    Ein Freund, ehemals Air-Force-General, jetzt Restaurant- besitzer in New York, lud Cohen zusammen mit dem Beobachter des Vatikan bei den Vereinten Nationen, Bischof Giovanni Cheli, und mit dem aus Rom zu Besuch weilenden Erzbischof Agostino Casaroli zum Abendessen ein. Cohen, von einem ebenfalls eingeladenen Jesuiten, einem Harvard-Absolventen, wegen seiner Waffe verurteilt, überzeugte die Bischöfe mit seiner praktischen Argumentation. Die Bischöfe und der Bombenbauer verstanden einander so gut, weil Sam einen völlig unaggressiven Charakter hat – auch hier ganz das Gegenteil von Edward Teller –, dass er im Juni 1979 eine unerwartete Einladung erhielt.
    Casaroli sollte im Vatikan zum Kardinal ernannt werden, und Samuel Cohen wurde als besonderer Gast geladen – als Mitglied der amerikanischen Delegation.
    Sam flog nach Rom.
    Was er dort erlebte, hätte auch ein Drehbuchautor aus Beverly Hills nicht besser erfinden können. Die Zeremonien überschlugen sich, tagelang wurde Cohen, Gast von Kardinal Casaroli, der das Amt des Außenministers des Vatikan übernehmen sollte, bei Empfängen und Essen herumgereicht, und zu seinem Entsetzen stets als »Vater der Neutronenbombe« vorgestellt.
    »Dem ersten armen Kerl, dem ich so vorgestellt wurde«, sagte mir Sam diebisch grinsend, »fuhr der Schock in die Glieder. Als dieser, ein Kardinal, sich erholt hatte, sagte er: ›Sie müssen ein fürchterlicher Mensch sein.‹ Aber schon antwortete Bischof Cheli an meiner Stelle, nein, er ist eine durch und durch moralische Person.«
    Schließlich wurde Cohen auch Papst Johannes Paul II. vorgestellt – der gefasst sagte: »Ich nehme an, Sie arbeiten für den Frieden?«
    So weit die Frage der Moral.
    Und die Erfindung? »Ach Gott«, sagte Sam, »die kann man vergessen. Die wird zwar gebaut, aber passt nicht in die NATO- Strategie. Wenn man uns nicht will, sollten wir Amerikaner uns aus Europa zurückziehen. Denn was dort passiert, ist nichts anderes als die Vorbereitung des Dritten Weltkrieges.«
    Das sagte er so kühl, als wollte er mich zu einem weiteren Glas ermuntern.

    Aber es kam anders.
    Mit Gorbatschow setzte das Tauwetter ein. Der Kalte Krieg wurde beendet. Die Abrüstung begann, und Ronald Reagans Nachfolger George Bush ließ die siebenhundert Neutronenbomben vernichten.
    Damit sah Sam seine Existenzberechtigung schwinden und behauptete schließlich, es gebe hundert Mikro-Atombomben in den Händen von Terroristen, fünfzig davon bei Saddam Hussein, der sie im Falle einer Invasion gegen US-Truppen einsetzen werde.
    Solche verrückten Geschichten stehen ja noch nicht einmal in Comic Strips.
    Als wir uns verabschiedeten, sagte Sam auf Französisch: »C’est la vie – so ist das Leben.«
    »Merci beaucoup – vielen

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