Neugier und Übermut (German Edition)
Wochenende des 8. auf den 9. Dezember in den Wahlkreis von Dumas im Périgord kommen könne. Dumas werde in der schönen alten Stadt Périgueux auf den Markt gehen, wo es Foie gras, Gänsestopfleber, fette Gänse und Pilze, Köstlichkeiten aller Art zu kaufen gebe. Und Dumas werde im Laufe des Tages einige regionale Politiker treffen, Versammlungen besuchen, und am Ende des Tages könnte ich ein längeres Gespräch mit ihm führen. Für ein Fernsehporträt also reichlich Bilder.
Ernst Weisenfeld, der mir ein väterlicher Freund geworden war und mich bei regelmäßigen Sonntagsspaziergängen im Wald bei den Teichen von Ville d’Avray, die Corot gemalt hat, in die Details und Tiefen der französischen Politik einführte, saß am Freitagnachmittag neben mir im Auto auf der Fahrt nach Périgueux. Ganz unerwartet für uns, was den Zeitpunkt betraf, meldeten die Nachrichten im Autoradio, François Mitterrand habe Roland Dumas zum Außenminister ernannt. Da Mitterrand aber an diesem Freitag zu einer Reise nach Afrika aufbrechen sollte, meinte Weisenfeld, wir könnten genauso gut umdrehen. Denn Dumas werde Mitterrand sicher auf dem Staatsbesuch begleiten müssen und nicht am nächsten Morgen in Périgueux über den Gänsemarkt schlendern.
Das alles spielte in jener dumpfen Zeit, in der es noch keine Mobiltelefone gab, also hielten wir an der nächsten Raststätte, erreichten Robert Boulay, der uns aber beruhigte. Nein, Dumas habe seine Reisepläne nicht geändert.
Weisenfeld hatte mir einiges über Roland Dumas und dessen besondere Beziehung zu Mitterrand erzählt. Ich hatte seine Biographie gelesen und versucht, mich bis ins kleinste Detail auf ihn vorzubereiten. Trotzdem war ich mir unsicher, wie Dumas uns Deutschen begegnen würde, und das im Périgord. Denn er musste ein gebrochenes Verhältnis zu uns haben.
Vater Dumas war gleich 1914 als französischer Reserveoffizier eingezogen worden und hatte den ganzen Krieg gegen die »boches« mitgemacht. Dieser Krieg hatte ihn gelehrt, für den Rest seines Lebens wachsam zu sein gegenüber dem deutschen Feind. Diese Einstellung gegenüber den Deutschen vermittelte er, sobald der alt genug war, auch seinem 1922 geborenen Sohn Roland. Gemeinsam saßen Vater und Sohn vor dem Radio, als sie zum ersten Mal eine Rede von Adolf Hitler im Rundfunk empfangen konnten, und wieder stieg im Vater die Angst hoch, die Deutschen könnten noch einmal die Waffen gegen Frankreich erheben. Als es so weit war, verstand es sich von selbst, dass Vater und Sohn in der Résistance, dem Widerstand gegen die Deutschen, waren. Roland wurde 1942 in Lyon verhaftet, weil er gegen ein Konzert der Berliner Philharmoniker demonstriert hatte. »Ich war im Fort Barraux in der Nähe von Grenoble eingesperrt«, erzählte er mir. »Nach drei Wochen bin ich ausgebrochen und habe dann bis zur Befreiung im Widerstand gekämpft.«
Seinen Vater erwischten die Deutschen im Périgord. Er hatte weniger Glück: Am 26. März 1944 wurde er als Geisel mit ein paar Dutzend anderen Zivilisten von deutschen Soldaten erschossen.
Als ich ihn, in einem Gespräch, das ich im Frühjahr 2011 für die Süddeutsche Zeitung mit ihm führte, darauf ansprach, dass die Deutschen seinen Vater erschossen hätten, warf er spontan ein: »Die Nazis.«
»Schön, dass Sie das unterscheiden«, antwortete ich ihm.
»Es waren übrigens ›Gelegenheitsnazis‹«, fuhr Dumas fort.
»Die Typen sprachen noch nicht einmal deutsch. Das waren Truppen, die irgendwo in Zentraleuropa rekrutiert worden waren.«
»Haben Sie damals schon zwischen Nazis und Deutschen unterschieden?«
Nein, das hatte er nicht. »Zwischen Nazis und Deutschen zu unterscheiden ist eine intellektuelle Anstrengung, die jedes Individuum machen sollte. Unterscheiden zwischen einer Bevölkerung und einer Doktrin, durch die eine Bevölkerung monströs wird. Es ist nicht die Bevölkerung selbst, die barbarisch ist. Die Doktrin etwa, die Hitler verkörperte, machte, dass man sich wie ein Barbar benahm. Es dauerte schon eine Weile, bis ich das unterscheiden konnte. Vor dem Krieg sprach mein Vater deutsch, das hatte er als Offizier gelernt. Ich habe Deutsch im Lycée gelernt. Es gab also zwischen beiden Zivilisationen eine gewisse Zuneigung. Ich wiederhole: Man kann nicht die deutsche Nation mit der deutschen Hypertrophie vergleichen, die es einen Moment lang gab.«
Im Keller des Hauses, in dem Dumas aufwuchs, lagen einige verstaubte Pickelhauben, die der Vater im Ersten Weltkrieg dem
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