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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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nachtschwärmende Politiker an. Das Nachtcafé war 365 Tage im Jahr bis morgens um fünf geöffnet.
    Ich erinnere mich, dort eines Abends Joschka Fischer getroffen zu haben. Er war allein, so setzten wir uns an einen Tisch und diskutierten Politik. Ich war erstaunt, wie konservativ er das politische System der Bundesrepublik beurteilte, das meiner Meinung nach dringend einer Reform unterzogen werden sollte. Ich war und bin immer noch für die Änderung unseres Wahlrechts in Richtung Mehrheitswahl, ich war und bin immer noch für die Abschaffung oder zumindest erhebliche Absenkung der Parteienfinanzierung. Ich war und bin für die Reduzierung des Bundestags auf 400 Abgeordnete. Fischer dagegen wollte alles beim Alten lassen. Er meinte, mit diesem System sei die Bundesrepublik doch bisher gut gefahren.
    Im Herbst 1994 traf ich Joschka Fischer bei einer abendlichen Veranstaltung in Bonn, wo gediegene Kleidung erbeten war. Fischer trug einen eleganten farbigen Schlips. Und da ich bei den Tagesthemen nicht jeden Abend denselben Schlips tragen konnte, aber auch nicht ständig neue Krawatten kaufen wollte, bat ich Fischer, mir seinen Schlips für meine nächste Moderation zu leihen.
    »Ich will den aber wiederhaben«, sagte Fischer, zog die Krawatte aus und gab sie mir.
    Zufällig fand am Tag meiner nächsten Moderation der Parteitag der Grünen statt, sodass ich Fischers Krawatte umband. Danach schickte ich ihm den Schlips mit einer Kassette zurück, auf der die Sendung aufgezeichnet worden war, legte zu der Post eine meiner Krawatten, sozusagen als Ausgleich, bat jedoch auch darum, sie zurückzubekommen. Einige Wochen später kam Post von Fischer. Er hatte meine Krawatte während der Vereidigung von Helmut Kohl zum Bundeskanzler im Bundestag getragen.
    Von Gerhard Schröder habe ich mir nie einen Schlips geliehen. Vielleicht waren seine Krawatten mir nicht modisch genug, zumindest in der Zeit, bevor er Kanzler wurde.
    Solang er Ministerpräsident von Niedersachsen war, hatten wir einen freundschaftlichen Kontakt, so kam er auch manchmal mit Lebensgefährtin Doris samt deren Tochter zu mir nach Hause zum Abendessen. Doris Tochter wurde dann mit einem Film auf DVD beschäftigt.
    Auf seiner Hochzeit mit Doris in Hannover nahm mich Wolfgang Clement, damals Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen, zur Seite und sagte: »Keiner hält eine Rede, keiner hat einen Auftritt geplant. Wir müssen etwas tun.« Clement hatte auch schon etwas getan. Er hatte einen Gast aus der Musikszene, Klaus Meine, Sänger der Scorpions, überredet, einen kleinen Chor einzuüben. So versammelten wir uns in der Küche, probten ein wenig und traten dann auf die Bühne, um mehr laut als richtig singend, zumindest was mich betrifft, dem Brautpaar zu huldigen.
    Als Gerhard Schröder dann zum Kanzler gewählt worden war, ging ich auf »journalistische« Distanz. Ich wusste, in Zukunft würden wir uns in den Tagesthemen regelmäßig kritisch mit seiner Politik auseinandersetzen, er würde immer wieder Gesprächspartner in der Sendung sein, da wollte ich ihm persönlich nicht zu nahe stehen. Ich habe ihn während der ganzen Zeit seiner Kanzlerschaft nie im Kanzleramt besucht. Nur wenige Tage vor der von ihm verlorenen Wahl 1998 bat ich Regierungssprecher Thomas Steg, mir Zugang zum Kanzleramt zu ermöglichen. Ich setzte mich auf den leeren Amtssessel des Kanzlers, unterhielt mich mit Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier und traf Schröder nur zufällig zu einem kurzen Small Talk auf der Treppe.
    Mir war die Distanz wichtig. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es schwer ist, ein gutes journalistisches Produkt über jemanden abzuliefern, den man gut kennt. Ich lehne es deshalb auch ab, wenn ich gebeten werde, über einen Freund oder eine Freundin zu schreiben. Als Anne Will die Nachfolge von Sabine Christiansen in der Sonntagabendsendung antrat, bat mich der stern um einen Text. Ich habe gegen besseres Wissen zugesagt und mich entsetzlich gequält. Man weiß zu viel über Freunde, steht also vor der Entscheidung, wie viel man preisgeben soll. Freunde will man loben, aber man kennt ja auch ihre Schwächen. Soll man die verschweigen?
    Als Gerhard Schröder Kanzler wurde, verlangte die öffentliche Meinung nach Veränderungen, nach Reformen, sodass sein Mangel an Charisma nicht hinderlich war, eher der an Vi- sionen. Seine ersten hundert Tage wurden zu einem Debakel, eben weil Schröder nicht dem Bild eines Politikers mit außergewöhnlicher

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