Neugier und Übermut (German Edition)
sind noch nicht am Ende«, antwortete ich. »Also brauchen wir mindestens drei Stunden für das Gespräch. Mit allem drum und dran sollten Sie sich dann vier Stunden Zeit für die Aufnahme nehmen.«
Kohl zückte seinen Kalender. Wir fanden einen Tag, an dem er vier Stunden Zeit hätte für die Aufnahme.
Die Phoenix-Redaktion war mit einem dreistündigen Gespräch einverstanden: Es würde in zwei Teilen à anderthalb Stunden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gesendet werden.
Wie aber führt man ein dreistündiges Interview? Ich hatte Angst. Ich hatte richtig Angst. Angst zu versagen. Denn ich wusste: So mancher Kollege würde darauf starren, ob das Gespräch gelingen würde. Andererseits motiviert mich Angst. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass ich dieses Gefühl bewältigen kann, indem ich es gründlich abarbeite. Deshalb habe ich mich gut zwei Wochen lang auf das Interview vorbereitet.
Als es so weit war, nahmen Helmut Kohl und ich auf zwei Stühlen mit Lehne an einem Tisch im Empfangssaal des Palais Schaumburg Platz, dort wo Konrad Adenauer regiert hatte.
»Von Adenauer«, so Kohl in unserem Gespräch, »habe ich den Satz gelernt, den viele ablehnen, der aber trotzdem gescheit ist. Der hat einmal gesagt, du musst die Tricolore dreimal grüßen und die Bundesflagge einmal. Viele, die den Satz hören, sagen: Spinnen die? Wieso habt ihr weniger Respekt vor der eigenen Flagge? Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Aber Frankreich ist die Grande Nation. Sie können natürlich sagen: Wieso sind die die Grande Nation? Kann man alles vertreten. Aber wenn die Franzosen etwas machen vor der Geschichte, ist es immer in der Perspektive etwas anders gelaufen. Die Franzosen haben den Amerikanern beim Unabhängigkeitskrieg geholfen. Der Name La Fayette ist in jedem Schulbuch zu finden. Und wenn sie reinkommen nach New York steht da die Freiheitsstatue.
Der Mann, der George Washington die Armee reorganisiert hat, war ein preußischer Offizier namens Steuben… Als ich versuchte, das mal dem amerikanischen Präsidenten zu erläutern, war er ganz sprachlos, dass es auch Deutsche waren auf beiden Seiten der Palisaden.«
Kohl hatte ein gutes Gespür für geschichtliche Zusammenhänge.
In solch einem Dreistundengespräch musste ich auch die Themen ansprechen, die zur Kritik an Kohl beigetragen hatten. Wie zum Beispiel den Satz von der »Gnade der späten Geburt«, für den ihn die deutsche Öffentlichkeit, die Medien und die Intellektuellen hämisch kritisiert haben.
In dem Interview in einen biographischen Zusammenhang gestellt, ergab Kohls Ausspruch plötzlich ein anderes Bild. Auf die Frage, was ihn denn den Satz von der Gnade der späten Geburt habe prägen lassen, erzählte er ausführlich, was es damit auf sich hatte:
»Ich habe damals eine für mich wichtige Rede in der Knesset, im Parlament des Staates Israel gehalten mit dem Grundthema: Die Deutschen und die Juden. Das, was Schreckliches in deutschem Namen geschah, wie geht’s weiter. Ich habe in diesem Zusammenhang den Satz gebraucht. Dann muss man aber den ganzen Satz sehen, der da lautet, dass es für mich und meine Generation wichtig ist, die die damalige Zeit erlebt hat, mit wachem Bewusstsein oder leidlich wachem Bewusstsein, aber ohne selbst in Gefahr, in Schuld zu geraten, aus der Gnade der späten Geburt, die Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Dieser Satz hat in Israel enorm positive Reaktionen hervorgerufen. In Deutschland ist er, wie so häufig, verfälscht worden, verkürzt worden und in sein Gegenteil verkehrt worden.
Just bei dieser Reise hat mich auch mein eigenes Leben eingeholt. Das hat einen großen Eindruck auf mich gemacht, vor allem, weil ich völlig unvorbereitet war. Ich war in Tel Aviv in dem Museum über die jüdische Diaspora und bin geführt worden von einem früheren Offizier der Israelis. An der Tür sprich er mich plötzlich auf Deutsch an, da war nie vorher ein deutsches Wort, und sagt: ›Lebt Ihre Mutter noch?‹
Ich habe den völlig sprachlos angeguckt und sagte: ›Wie kommen Sie auf meine Mutter?‹
Dann sagte er: ›Ich habe Ihre Mutter gekannt. Ich habe Sie vermutlich auch gekannt als kleines Kind.‹
Lange Rede, kurzer Sinn. Bei uns in dem Stadtviertel, von dem ich herstamme und wo ich wohnte, gab es so kleine Bäckereien. Seine Eltern hatten dort eine Bäckerei, sind aber 1937 herausgekommen nach Israel. Es war damals die Zeit: Bei Juden kauft man nicht. Das war für meine Mutter ein Grund, bei
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