Neugier und Übermut (German Edition)
Claus-Hinrich Casdorff das Interview redaktionell ab.
Gleich nach der Tagesschau ging Monitor auf Sendung.
Meine Moderation im Wortlaut:
»In einer freien Gesellschaft, in einer Demokratie wird es immer schwerer sein, sich gegen Terror zu verteidigen als in jenen Staaten, in denen das Volk selbst mit Terrormethoden unterdrückt wird. Die Terroristen, die dem Gesellschaftssystem der Bundesrepublik den Kampf – und zwar einen schrecklichen – angesagt haben, berufen sich bei ihren Taten auf revolutionäre politische Ziele. Die Frage bleibt, ob diese Taten tatsächlich mit politischen Zielen noch etwas zu tun haben. Die Frage bleibt allerdings auch, ob es gerechtfertigt ist, in einem Atemzug die gesamte Linke mit den Terroristen in einen Topf zu werfen und – wie es die Frankfurter Allgemeine am letzten Samstag tat – von dem ›ideologischen Sumpf‹ zu sprechen, ›aus dem immer wieder die Blasen des verbrecherischen Willens emporsteigen‹.
Denn die Gleichsetzung von Terror und linker Ideologie ist schlicht falsch. Das zeigt das Interview, das ich gestern in San Diego in Kalifornien mit dem Mann führte, dessen Philosophie zu den geistigen Grundlagen der Studentenbewegung gehört und der noch heute als einer der einflussreichsten marxistischen Philosophen gilt – mit Professor Herbert Marcuse.«
Darauf sollte das Interview folgen. Doch plötzlich verschwanden Bild und Ton. Eine technische Störung? Ein großer Teil des Interviews war nicht zu sehen. Wir haben es später noch einmal gesendet, und in manchen Tageszeitungen wurde es nachgedruckt:
»Herr Professor Marcuse, Sie haben mit Ihrer Philosophie dazu beigetragen, dass die Studentenbewegung, die Bewegung der Neuen Linken in der Bundesrepublik, sich schnell entwickelt und eine relativ breite Basis gefunden hat. Aus dieser Bewegung sind viele positive politische Impulse hervorgegangen. Resultat sind aber auch, wie wir jetzt in Stockholm wieder gesehen haben, grausame terroristische Akte. Konnte man das eigentlich vorhersehen?«
»Das konnte man im allgemeinen vorhersehen. Aber ich glaube, dass die Linke eine Phase im Kampf für den Sozialismus in der Periode des Monopolkapitalismus war und ist, das heißt eine Bewegung von welthistorischer Bedeutung. Und eine solche Bewegung verantwortlich zu machen für die terroristischen Akte einzelner Individuen und Gruppen, ist unsinnig und ist einfache Demagogie, obgleich leider sehr wirkungsvolle Demagogie.«
»Sie sind selbst ein Anwalt der Gewalt. Tragen Sie deshalb nicht ein gut Stück Verantwortung an dieser Entwicklung?«
»Ich glaube, dass das Prädikat ›Anwalt der Gewalt‹ etwas denunziatorisch ist. Aber statt darauf einzugehen, möchte ich den Satz vorlesen, den ich darüber geschrieben habe und der immer zitiert wird, nämlich – und ich zitiere jetzt: ›Ich glaube, dass es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben.‹ Ende des Zitats. Ich habe nie verstanden, warum dieses Zitat solche Erregung hervorgerufen hat. Es erinnert lediglich an eine der ältesten Kamellen der westlichen Zivilisation, nämlich daran, dass es so etwas wie ein Naturrecht des Widerstands in bestimmten Situationen gibt. Seit dem frühen Mittelalter hat die katholische sowohl wie später die protestantische Theologie dieses Recht für sich in Anspruch genommen.«
»Aber schleichen Sie sich jetzt nicht aus der Verantwortung? Weshalb sollen sich die Terroristen nicht auf Sie, Herr Professor Marcuse, berufen, wo Sie doch die Gewalt als Mittel der Veränderung ansehen?«
»Ich betrachte mich immer nur als einen Marxisten. Der Marxismus lähmt den Terror und lehnt den individuellen Terror kleiner Gruppen ohne Massenbasis ab. Das ist oft gesagt worden, das ist heute noch richtig. Ganz anders steht es mit der Frage, ob eine Revolution ohne Gewalt vorstellbar ist. Nun, vorstellbar sind viele Sachen. Wenn man sich an historische Tatsachen hält und an den gesunden Menschenverstand, ist es schwer einzusehen, dass eine herrschende Klasse auf einmal freiwillig abdankt und großmütig ihre Macht – die sie ja noch hat – den anderen übergibt. Der Marx hat mal gesagt, ich paraphrasiere: Eine Revolution wird immer so gewalttätig sein wie die Gegenaktion der herrschenden Klasse ist. Mit anderen Worten, für den Marxismus ist revolutionäre Gewalt Gegengewalt.«
(Das sagt Marcuse lange vor
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