Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
Vom Netzwerk:
dieser Nummer versteckt sich Geld, der Produktionsetat. Solch ein Film würde sicher sechzig- bis siebzigtausend Mark an direkten Kosten erfordern, hinzu käme noch einmal mindestens das Doppelte an indirekten Kosten für Team, Material, Schnitt und Endproduktion, was auch immer, davon hatte ich nie eine Ahnung, musste ich auch nicht haben.
    Das Problem mit der Produktionsnummer war unangenehm und schwer zu lösen. Ich ging zu befreundeten Redaktionsleitern, trug ihnen meine Idee vor. Alle fanden die Idee großartig. Ja, phantastisch. Toll, dass Marcuse zugesagt hat. Aber leider war der Produktionsetat von allen schon verteilt.
    Es war die heiße Phase des RAF-Terrors. In Stammheim lief der Prozess gegen Baader und Ensslin. Im Mai 1976 hatte sich Ulrike Meinhof das Leben genommen. Keiner wollte Marcuse zu nahe kommen. Wurde der in der Presse nicht immer wieder als Vater des Terrors dargestellt?
    Es war zum Verzweifeln.
    Auch wenn ich die Runde noch einmal machte, keine Redaktion wollte mir die begehrte »Produktionsnummer« geben.
    Der Frühling 1977 brach an. Ich las Marcuse.
    Der Mai kam. Marcuse rief mich nicht an.
    Der wird sich schon melden, sagte ich mir. Er hat ja nicht gesagt, wann im Mai er nach Deutschland kommt. Es war schon Mitte Mai. Marcuse hatte nicht angerufen. Na gut, ich hatte ja auch keine Produktionsnummer. Macht nix: Marcuse war wichtiger als dieses Aktenzeichen. Ich begann rumzutelefonieren. Keiner hatte eine Ahnung. Bis ich auf die Idee kam, Jürgen Habermas in seinem Institut in Starnberg anzurufen. Der gab mir gleich die Telefonnummer von Herbert Marcuse in Berlin. Ich rief dort an. Marcuses Frau Ricky hob ab und reichte das Telefon ihrem Mann. Ich erinnerte ihn an das Interview vor zwei Jahren, ich erinnerte ihn an unser Gespräch im Studio C im vergangenen Jahr, ich erinnerte ihn an meine Idee, einen Dokumentarfilm über sein Leben und sein Werk zu drehen. Er sagte mir wieder in seiner so freundlichen, ruhigen Art, ich möge ihm doch nach La Jolla einen Brief schreiben. Im September sei er zurück in Kalifornien, dann würde er den Brief vorfinden und sich bei mir melden. Und dann beendete er das Gespräch in seiner liebenswürdigen Art und hängte ein.
    Ich war verzweifelt.
    Keine Produktionsnummer.
    Kein Marcuse.
    Aber ich wollte diesen Film partout drehen. Von wegen »um des Lebens willen« und den Genuss des Lebens.
    Da kam mir eine Idee.
    Die meisten Bücher von Herbert Marcuse waren in Deutschland unter der Verantwortung von Günther Busch in der edition suhrkamp erschienen. Ihn rief ich an und schilderte ihm die Hälfte meines Problems, nämlich dass Marcuse sich mir entziehe. Die Sache mit der Produktionsnummer ging ihn ja nichts an. Das war ein Problem zwischen dem WDR und mir.
    Günther Busch reagierte ganz entspannt und pragmatisch. Er sagte nur: »Kommen Sie am nächsten Mittwoch nach Frankfurt zu mir nach Hause zum Abendessen. Da ist Marcuse dann auch da.«

    Das Abendessen in Frankfurt verlief fröhlich. Neben dem Gastgeber Günther Busch und dem Ehepaar Marcuse war auch Walter Boehlich, der frühere Cheflektor des Suhrkamp Verlags, eingeladen. Er kannte mich aus der Zeit, in der er gegen den Rektor der Bonner Universität wegen dessen brauner Vergangenheit anschrieb und ich als Studentenvertreter mich auf seiner Seite engagiert hatte. Es waren noch zwei oder drei andere Gäste geladen, darunter ein junger Mann, den ich damals noch nicht kannte, der mir aber über die gemeinsamen Erlebnisse in den letzten Jahrzehnten ein guter Freund geworden ist. Lothar Menne, inzwischen einer der erfolgreichsten deutschen Verleger (die FAZ wird ihn »Trüffelschwein des Buchmarktes«, die Berliner Zeitung die »Graue Eminenz des deutschen Bestsellergeschäfts« nennen), war damals Lektor beim S. Fischer Verlag, aber vor allem ein enger Vertrauter von Marcuse. Scherzhaft nannte man ihn Marcuses Statthalter in Frankfurt, aber das war wohl weniger ideologisch als praktisch gemeint.
    Eigentlich ist Lothar Menne eine Art Romanfigur, deshalb möchte ich hier ein wenig aus seiner wechselvollen Biographie erzählen.
    Er stammt aus einem wohlsituierten Hause in Krefeld. Als Student in München sammelte er für republikanische Spanien- Flüchtlinge, dabei rissen ihm Franco-Anhänger das Schild aus den Händen und hauten es ihm auf den Kopf. Damit war er ein Märtyrer in den Augen der Genossen vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und wurde dort eingemeindet.
    Bald geriet er in den

Weitere Kostenlose Bücher