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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Büro am Broadway Ecke 57th Street. Häufig riefen wir uns gegen ein Uhr mittags an.
    »Kannst du?«
    »Ich geh los!«
    Und dann trafen wir uns auf halbem Weg zwischen ZDF- und ARD-Studio in einem einfachen Lokal namens »Armstrong«. Beide bestellten wir immer das Gleiche: eine Schale Chili con carne, als Nachtisch ein Applecrumble. Und wir erzählten uns, an welchen Themen wir arbeiteten. Keiner hat dem anderen je etwas geklaut. Auch das ist unter Journalisten ungewöhnlich. Wir haben uns sogar ausgeholfen, und der eine hat schon einmal ein Interview für den anderen geführt, wenn der wegen eines Filmdrehs gerade nicht in New York weilte.
    Aus meinen Zeiten bei Monitor war ich immer noch gewohnt, leichte Themen als seicht anzusehen. Darüber hatten wir immer verächtlich gelästert. Erst in den Unterhaltungen mit Hajo begann ich umzudenken.
    Das Leichte muss nicht seicht sein.

    Hajo saß gerade daran, einen Bericht darüber zu machen, dass es in Harlem und in der Bronx bei Jugendlichen ein Sport war, Radkappen von Autos zu sammeln. Und zwar Radkappen, die während der Fahrt absprangen. Weshalb sprangen sie ab? Wegen der ungeheuren Schlaglöcher. Aber was besagt dieser Sport? Dass die Stadt kein Geld in die Straßen von Harlem oder der Bronx steckt, weil sie die dortigen Bewohner gering schätzt.
    Und an Hajo dachte ich auch einige Jahre später, als ich in Paris über die Place de la Concorde ging. Mich begleitete Klaus Hennig, damals Auslandsredakteur beim WDR. Er war zu Besuch im Studio, wir hatten in einem Bistro in Saint-Germain zusammen gefrühstückt – jeder ein Croissant und einen Café au lait – und gingen nun zu Fuß ins Büro. Der Weg führte uns über die Place de la Concorde. Entsetzt sagte Klaus Hennig: »Da kommen wir nie rüber!«
    »Gemach, gemach!«, beruhigte ich ihn, »du gehst einfach auf meiner linken Seite, die Autos kommen von rechts. Und dann gehst du genau so schnell wie ich, schaust nur nach vorn, den Rest mache ich.«
    Klaus Hennig hatte zwar seine Zweifel, aber schließlich gingen wir so über den Platz, den ich häufig zu Fuß überquert habe, weil er auf meinem Weg ins Studio lag. Ich erklärte ihm, dass man nicht auf die Autos achten dürfe, höchstens aus einem Augenwinkel. Kein französischer Autofahrer werde einen Fußgänger umfahren. Der Fußgänger müsse sich nur vorhersehbar verhalten. Also: nicht anhalten, sondern in gleicher Geschwindigkeit nach vorn gehen. Dann kann der Autofahrer sich überlegen, ob er es noch vorne vorbeischafft oder ob er hinter dem Fußgänger vorbeifährt. Als wir auf der anderen Seite angekommen waren, atmete Klaus Hennig erleichtert aus. Und er rief: »Das musst du drehen. Das ist ja genial!«
    »Aber das ist doch Alltag. Das langweilt doch die Leute! Ein Fußgänger geht über einen Platz, weiter nichts«, antwortete ich ihm. Doch dann dachte ich an Hajo und seinen Bericht über die Radkappen sammelnden Jungs aus der Bronx. Auch dieser Gang über die Place de la Concorde sagt etwas aus, und zwar über die Psychologie der Franzosen. Es ist nun gut fünfundzwanzig Jahre her, dass diese Szene gedreht wurde. Aber ich werde immer noch darauf angesprochen. Manch einer hat den Gang nachgemacht, andere haben es sich nicht getraut. Jeder hat allein beim Zuschauen Angst verspürt. Und ich antworte meist: »Ich habe nur Angst gehabt, dass jetzt ein deutscher Autofahrer kommt und sagt: Ich habe Vorfahrt!«

    Hajo wechselte zu den Tagesthemen, zur ARD. Und so hatten wir ständig beruflichen Kontakt. Irgendwann sagte er mir, er werde bald aufhören, und ich solle sein Nachfolger werden. Ich antwortete ihm, das könnte ich gar nicht. Und das meinte ich ernst. »Natürlich kannst du das«, sagte er. Und als es so weit war, schlug er mich als seinen Nachfolger vor.
    Intendant des WDR war damals Friedrich Nowottny, der mir als Studioleiter in Bonn wegen seiner ungeheuren Einsichten in die Politik ein Vorbild geworden war. Nowottny bestellte mich zu sich und schlug mir vor, als Nachfolger von Friedrichs die Tagesthemen zu moderieren. Ich sagte, das sei eigentlich gar nicht mein Berufsziel. Ich wolle lieber das machen, was er einst geprägt hatte: das Studio Bonn leiten und den Bericht aus Bonn moderieren. Da saß aber Ernst Dieter Lueg als Nachfolger von Friedrich Nowottny. Und bis zu dessen Pensionierung waren es noch ein paar Jahre. Also sagte ich für die Tagesthemen zu.
    Schon ein paar Tage später flog ich von Paris nach Hamburg und ließ mir von Hajo die

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