Neugier und Übermut (German Edition)
vorlag.
Es war bei Monitor üblich, dass die gesamte Redaktion die Filme im Schneideraum diskutierte und abnahm. Aber kaum hatten wir unseren Bericht vorgeführt, da sagte Redaktionschef Claus-Hinrich Casdorff, darüber würden wir in seinem Büro reden. Und dort erklärte er, aus politischen Gründen werde er der Sendung dieses Berichts nicht zustimmen. Ich könne aber zu dem Thema gern einen Kommentar sprechen. Das lehnte ich ab. Entweder laufe der Bericht oder nicht. Für mich gab es keine Alternative.
In der nächsten Redaktionskonferenz nach der Sendung sagte Jochen Maass, ein gestandener journalistischer Haudegen, er könne das Rumgerede nicht mehr ertragen, der Film sei schon abgesetzt gewesen, als wir noch auf Drehreise waren! Es war – wie soll ich es anders nennen? – eine Redaktionsintrige, die den Film gekippt hatte. So etwas kommt überall vor. Aber es ist für die Betroffenen äußerst unangenehm.
Ich fuhr erst einmal in Urlaub. Vier Wochen Bretagne. Nur Sonne. Und unter den Büchern, die ich mir mitgenommen hatte, waren zwei, in denen ich Tag und Nacht las. Das erste war »Watership down« von Richard Adams. Ich las den Überlebenskampf der freiheitsliebenden Wildkaninchen um Fiver, Hazel, Bigwig gegen den tyrannischen General Woundwort als politische Fabel. Freie Gesellschaft gegen Diktatur. Das zweite Buch war »Der eindimensionale Mensch« von Herbert Marcuse. Ich hatte seinen Aufsatz über »Repressive Toleranz« kurz nach der Redaktionsintrige gelesen und beschlossen, mich doch mehr mit Marcuses Werk vertraut zu machen.
Am ersten Tag nach meinem Urlaub lief ich vor dem Filmhaus des WDR in Köln dem Dramaturgen Martin Wiebel in die Arme und wollte irgendwelche Banalitäten vom Urlaub loswerden, er aber sagte: »Du, ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss ins Studio C, dort nehmen Ivo Frenzel und Willy Hochkeppel ein Gespräch mit Herbert Marcuse auf.« Ivo Frenzel war damals zuständig für Wissenschaft beim Dritten Programm des WDRFernsehens, Willy Hochkeppel war ein Publizist, der sich der Philosophie verschrieben hatte.
Ich vergaß alle Termine und folgte Martin Wiebel ins Studio C.
Wir saßen in der Regie und schauten uns an, wie Marcuse in blauem Hemd zwei fein mit Schlips gekleideten Gesprächspartnern gegenübersaß und die Asche seiner Zigarette in einem Aschenbecher auf dem kahlen Tisch an seiner Seite abklopfte. Damals rauchte man noch im Fernsehen.
Marcuse beantwortete jede Frage präzise und wie gedruckt und antwortete auf ein Hegelzitat, das ihm Hochkeppel vorhielt, nur: »Ich weiß nicht, was Hegel sich dabei gedacht hat.« Keiner von uns hätte sich je solch eine Aussage zugetraut. Bei Marcuse wirkte sie echt. Bei uns hätte man nur verächtlich gesagt, der kennt seinen Hegel nicht.
Und wieder sagte Marcuse einen Satz, der mich wegen seines utopischen Inhalts begeisterte. Er sprach von der realen Möglichkeit »eines Lebens, das nicht mehr als Hauptinhalt lebenslang die entfremdete und entmenschlichte Arbeit hat. Ein Leben, das um des Lebens willen gelebt werden wird und das den Genuss des Lebens erlaubt.«
Damals war mir noch nicht bewusst, dass diese Aussage gar nicht utopisch war, sondern dass ich als Journalist bei der ARD tatsächlich nicht »entfremdet und entmenschlicht« arbeitete, sondern ein Leben »um des Lebens willen« führte, die Arbeit mir (meistens) sogar ein Genuss war.
Als das Gespräch zu Ende war und die drei noch im Studio sitzen blieben, lief ich aus der Regie hinunter ins Studio, stellte mich Herbert Marcuse vor, davon ausgehend, dass er sich nicht an mich wegen meines kurzen Besuchs vor mehr als einem Jahr in La Jolla erinnerte, und sagte, ich würde gern einen Dokumentarfilm über ihn drehen. Über sein Leben und sein Werk. Frenzel und Hochkeppel waren so freundlich, meine Bitte zu unterstützen. Schließlich war Marcuse inzwischen 78 Jahre alt, und bisher hatte niemand einen solchen Film über ihn gedreht. Es würde ein Zeugnis der Zeit sein. Marcuse antwortete sehr freundlich, er würde jetzt wieder nach Kalifornien zurückkehren, im kommenden Mai werde er aber wieder nach Deutschland kommen. Er reichte mir seine Visitenkarte, ich gab ihm meine, und er versprach, sich im kommenden Frühjahr bei mir zu melden.
Ich hatte wieder einen Antrieb für meine Arbeit, würde mich jetzt mit dem Werk Marcuses beschäftigen. Noch wichtiger aber würde es sein, eine Produktionsnummer zu bekommen.
Ohne Produktionsnummer kann man keinen Film drehen.
Denn hinter
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