Neugier und Übermut (German Edition)
der revolutionären Verweigerungshaltung von Solidarnoœæ in Polen und der friedlichen Revolution in der DDR.)
»Bestehen Ihrer Meinung nach in der Bundesrepublik denn die Voraussetzungen für solch eine gewaltsame Revolution?«
»Nein. Ich glaube, dass es weder in der Bundesrepublik noch in den Vereinigten Staaten eine revolutionäre Situation gibt, es gibt noch nicht einmal eine vorrevolutionäre Situation, es gibt aber sehr wohl potenziell eine gegenrevolutionäre Situation.«
»Kann man eigentlich davon sprechen, dass diese Terroristen noch politische Überzeugungstäter sind?
»Subjektiv ist anzunehmen, dass sie ihre Aktionen für politisch halten. Objektiv ist das nicht der Fall. Wenn politische Aktion willentlich zum Opfer von Unschuldigen führt, dann ist das genau der Punkt, wo politische Aktion objektiv in Verbrechen umschlägt.«
»Sie sagen nun, Unschuldige dürfen nicht Opfer werden, heißt das denn, dass Schuldige Opfer werden dürfen?«
»Das heißt es in dieser Allgemeinheit überhaupt nicht. Ob und wann Terror eine revolutionäre Waffe ist, kann nur entschieden werden in einer Analyse der gegebenen Situation. Ich kann mir vorstellen, dass z. B. in einigen total faschistischen Staaten oder Diktaturen keine anderen Möglichkeiten, eine Veränderung hervorzurufen, bestehen. In solcher Situation mag der Terror sehr wohl die einzige Waffe sein, aber diese Situation existiert ganz bestimmt nicht in irgendeinem der kapitalistischen Länder.«
»Sie selbst verurteilen diesen Terrorismus wie er wieder in Stockholm zutage getreten ist. Dennoch werden gerade Leute wie Sie und die Neue Linke von anderen als Steigbügelhalter dieser – wie Sie selber sagen – Verbrecher angesehen.«
»Das ist eine sehr alte und außerordentlich beliebte Methode, bestehende Rechtsströmungen zu stärken. Ich glaube, wir sehen das gerade als eine der Konsequenzen der Baader-Meinhof-Gruppe in der Bundesrepublik, wo Versuche im Gange sind, die Bürgerrechte einzuschränken. Es ist das einer der Fälle, wo sich zeigt, dass eine Aktion wie die der Baader-Meinhof-Gruppe, die subjektiv als politische Aktion im Interesse der Revolution gemeint war, objektiv eine gegenrevolutionäre Funktion hat.«
Anderthalb Jahre nach diesem ersten Interview habe ich dann einen einstündigen Dokumentarfilm über Herbert Marcuse, über sein Leben und sein Werk, gedreht. Seit dieser Zeit stehen in den Bücherregalen meines Arbeitszimmers Bücher von Herbert Marcuse. In sein wohl populärstes Buch »Der eindimensionale Mensch«, das 1964 in den USA und 1967 in deutscher Übersetzung erschien, hat er mir eine Widmung geschrieben: »Für Ulrich Wickert zur Erinnerung an La Jolla, Dezember 1977, Herbert Marcuse«.
Als ich zum ersten Mal zu Marcuse gefahren war, hatte ich mich zwar während des Fluges auf die Person und das Interview mit Artikeln aus dem WDR-Archiv vorbereitet, aber ich hatte keines seiner Bücher gelesen und mich mit marxistischen Ideen, auch wenn sie – wie bei Marcuse – neu gedacht worden waren, nie beschäftigt. Sie interessierten mich einfach nicht. Vielleicht war ich einfach zu bequem. Das Kommunistische Manifest hatte ich gelesen. Da fand ich manches richtig. Aber vom »Kapital« habe ich im Seminar vielleicht die ersten zwei Seiten geschafft. Dann brach ich erschöpft zusammen.
Statt über Marx schrieb ich über Aristoteles, der »Freiheit« als Grundlage jeder demokratischen Staatsform bezeichnet.
Und Freiheit war in den siebziger Jahren ein Begriff, der unter Journalisten heftig diskutiert wurde. Die Freiheit der Redaktion gegenüber dem »Apparat«. Wir bekämpften nicht nur die Zensur, sondern beklagten auch Selbstzensur, die wir die »Schere im Kopf« nannten. Es war die Zeit, in der Redaktionsstatute erarbeitet und durchgesetzt wurden. Es war die Zeit, in der Rudolf Augstein die Hälfte seines SPIEGEL an die Mitarbeiter überschrieb, was er sehr viel später arg bereute.
Im Oktober 1976 stand die Bundestagswahl an. Im Frühsommer drehte ich mit meinem jüngeren Kollegen Claus Richter, der 1984 mein Nachfolger als Studioleiter in New York werden sollte und heute erfolgreicher Chef des ZDF-Magazins Frontal 21 ist, einen Bericht über den Wahlkampf der CDU, die – so unser Eindruck – sich von Plakaten und Parolen der extremen Rechten aus den zwanziger Jahren anregen ließ. Es war ein sehr kritischer Bericht, der wegen aktueller Dreharbeiten erst zwei Stunden vor der Sendung fertig geschnitten und getextet
Weitere Kostenlose Bücher