Neugier und Übermut (German Edition)
Marcuse
Das kritische ARD-Polit-Magazin Monitor lief zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr am Montagabend. Alle vier Wochen. Die Einschaltquoten lagen bei sagenhaften 27 Prozent.
Es war Donnerstag. Und alle Filme für die Sendung waren in Arbeit.
Dann brach der Terror los.
Mitglieder der RAF stürmten als Kommando Holger Meins am 24. April 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm. Der Militärattaché Andreas von Mirbach wurde tödlich getroffen. Die Terroristen forderten die Freilassung von 26 Gesinnungsgenossen, darunter Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Als um 20 Uhr der Beschluss von Bundeskanzler Helmut Schmidt verkündet wurde, auf die Forderungen der Terroristen werde nicht eingegangen, ermordete das Kommando den Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart. Kurz bevor schwedische Polizisten die Terroristen in der Botschaft mit Betäubungsgas angreifen wollten, explodierte wenige Minuten vor Mitternacht aus ungeklärten Gründen eine von dem Kommando angebrachte Sprengladung. Alle Angreifer und Geiseln erlitten Verbrennungen. Zwei Terroristen erlagen ihren Verletzungen.
Am Freitagvormittag überlegten wir in der Redaktionskonferenz von Monitor, damals unter Leitung von Claus-Hinrich Casdorff, wie wir in der Sendung auf den Terroranschlag reagieren sollten.
Ich weiß nicht mehr, wer die Idee hatte, aber jemand schlug vor, wir müssten auf die hysterischen Beschuldigungen reagieren, alles linke Denken führe direkt zum Terror. Ja, aber wie reagieren? Warum nicht ein Interview mit dem Philosophen Herbert Marcuse führen. Der wurde als Vater des Terrors beschuldigt, hatte großen Einfluss auf die Linke, könnte sich aber vom Terror distanzieren.
Und dann ging alles seinen journalistischen Gang. Jemand kannte jemanden in Berlin, der ein Freund des Schriftstellers Reinhard Lettau war. Lettau wiederum hatte einen Lehrauftrag an der Universität von Kalifornien in San Diego, wo Marcuse lebte. Und mit dem war Lettau befreundet.
Der Jemand rief den Jemand an.
Der Jemand telefonierte mit Lettau, der sprach mit Marcuse. Ja, der Philosoph stehe für ein Interview zur Verfügung. Und er verdamme diese Art von Gewalt.
Aber wer fliegt rüber, um das Interview zu machen? Der Wickert hat doch in den USA studiert, der kennt sich dort am besten aus, der kommt gut zurecht bei einer schnellen Stippvisite vom Rhein an den Pazifik.
Viel Zeit blieb mir nicht.
Ich nahm am Samstag früh den Zug nach Frankfurt, um dort ein Flugzeug nach Los Angeles zu besteigen. Der Zug hielt mitten auf der Strecke. Und war kaputt. Es hielt ein anderer Zug nach Frankfurt auf einem anderen Gleis. Ich rannte über die Gleise, kletterte die Stufen zu einem Wagen hoch, würgte die Tür auf, kam rechtzeitig zum Flugzeug und war dank des Zeitunterschieds von neun Stunden am Abend desselben Tages in La Jolla, dem Vorort von San Diego, wo Marcuse wohnte.
In Deutschland war es jetzt schon Sonntagfrüh.
Reinhard Lettau saß in dem bescheidenen Bungalow, den Marcuse und seine Frau Ricky bewohnten. Ich hatte den Eindruck, ich würde erst einmal darauf überprüft, ob ich auch glaubwürdig wäre. Aber der Jemand in Berlin muss für die Sendung Monitor gebürgt haben.
Viel Zeit hatten wir nicht mehr. Die Sendung lief am Montagabend, ich müsste mit dem Filmmaterial noch nach Köln zurückfliegen. Das letzte Flugzeug, das ich nehmen könnte, würde am Sonntag gegen Mittag von San Diego abfliegen. Ein Kamerateam des ARD-Studios in Washington drehte gerade in San Francisco. Es würde am Sonntag früh um 10 Uhr in San Diego landen. Da wäre es in Deutschland schon 19 Uhr am Abend. Für das Kamerateam blieb zu wenig Zeit, um vom Flughafen nach La Jolla zum Haus von Marcuse zu fahren. Also bat ich den sechsundsiebzigjährigen Philosophen, sich mit mir am Flughafen zu treffen. Dort fand ich eine Bank auf einem Grünstreifen unter einer Palme. An dieser Stelle könnten wir das Interview schnell aufnehmen, es wäre nicht nötig, Licht aufzubauen. Das Team landete pünktlich. Ich machte das Interview, ließ mir vom Kameramann die Filmrollen, vom Toningenieur die Tonbänder geben, bedankte, verabschiedete mich und flog über New York zurück nach Frankfurt, wo ich am Montag gegen ein Uhr mittags landete. Ein Motorradfahrer nahm mir den Beutel mit dem Filmmaterial ab, er würde mit 200 Stundenkilometern zum Kopierwerk fahren. Als ich gegen drei Uhr beim WDR vorfuhr, wurde der Film schon entwickelt. Um vier lag er im Schneidetisch, um sechs nahm
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