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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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plötzlich ab und ließen sich auf einem weißen Felsen nieder, in dessen Spalten Kiefern wachsen.
    Dass die Laurs auf Tradition bauen, wunderte mich nicht, als ich erlebte, wie sehr die Menschen dieser Gegend mit den Sagen lebten, dass ihre Eltern und Großeltern sich erzählten, dass hier der Teufel in seine Hölle schlüpfte. Sie erzählen von »Fadarellen«, wie ihre guten Feen oder Paten heißen, von unwirklichen Figuren wie dem Wolfsmenschen, der die arme Bevölkerung erschreckte.
    Pierre Laur hatte mich zu einem Betrieb geschickt, in dem vierhundert Schafe die Milch für den Roquefort Gabriel Coulet lieferten. So fuhr ich in das Dorf La Blaquière im Norden der Larzac-Hochebene. Dort steht vor dem Ort ein wohl zehn Meter hoher, nach oben spitz zulaufender Fels, durch dessen Bauch in der Höhe, wo man den Nabel vermuten würde, ein gut ein Meter großes, mandelförmiges Loch Durchblick gewährt. Die alten Bauern wissen noch heute, woher diese Aushöhlung stammt.
    La Blaquière wirkte wie ausgestorben, als wir den Weg um den Felshügel herum bergauf fuhren. Es ist ein Ort, der noch nicht restlos verlassen und zerfallen ist, in dem es aber nur einen letzten, versteckten Hauch von Leben gibt. Da und dort kräht ein Hahn. An einer Mauer steht ein gepflegter Blumentopf. Der Weg im Ort ist weder geteert noch gepflastert, er besteht aus harter Kalkerde. Ab und zu schaut ein glatt gefahrener Fels hervor.
    Ein weißhaariger alter Mann im blauen Arbeitsanzug, wie ihn Bauern und Arbeiter überall in Frankreich zu Zeiten vor Bluejeans trugen, kam, seine Neugier hinter einer mürrischen Miene verbergend, um das Haus herum. Er war der älteste der drei Gebrüder Veyrier, die ihr Elternhaus gemeinsam bewohnten. Alle drei waren Schäfer im Ruhestand.
    François, der jüngste Veyrier, tuckerte im alten Deux-Chevaux heran und neigte sich zum Gruß. Er erzählte mir, auf einer Mauer sitzend, die Legende vom Loch im Stein und brachte für deren Richtigkeit eine Zeugin bei.
    »Früher blieb man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Feld. Mittags trug jemand aus dem Dorf den Feldarbeitern das Essen hinaus«, sagte François. »Es war angeblich zur Zeit meiner Mutter, da gab es jeden Tag Zieger. Wenn man aus der Schafsmilch den Rahm für den Roquefort gewonnen hat, bleibt Molke zurück, aus der man den Zieger, Molkenkäse, gewinnt. Wir sind arm, und im Zieger ist viel Eiweiß und Stärke. Aber es gab einen Bauern, dem ging es auf die Nerven, immer nur das Gleiche zu essen. Er nahm seine Brotzeit nahe dem Felsen zu sich, und ungefähr zwölf Personen waren bei ihm, als er plötzlich aufschrie: ›Ich hab’s jetzt satt, immer nur Zieger zu essen!‹ Dann warf er den Topf mit solcher Wut gegen den Felsen, dass dieses Loch entstand.«
    Und dann ballte François Veyrier eine Faust und ahmte den Topfwurf nach: »Was muss der für eine Kraft gehabt haben!«
    Ich fragte ihn nach weiteren Legenden, da erzählte er mir von der Entstehung des Roqueforts. Dafür konnte er zwar weder die Mutter noch sonst einen Verwandten als Zeugen für die Richtigkeit anführen, aber da alles gleich um die Ecke passiert war, wird es schon stimmen.
    »Es war einmal ein Bauer hier aus der Gegend, der seine Schafherde hütete. Er machte sich auf, seine Schöne zu besuchen – Sie wissen schon, was ich meine. Er hatte sein Brot mit Zieger, ein bisschen geronnene Schafsmilch, auf einem Felsen am Eingang einer der tiefen Höhlen zurückgelassen. Erst acht Tage später kam er von seiner Auserwählten zurück und war sehr erstaunt, dass die Tiere seinen Zieger nicht gegessen hatten. Doch das, was er nun vorfand, war von natürlichem Schimmel blau durchzogen. Er probierte, was er fand – oouuuh, das war gut! Es war das, was heute Roquefort heißt: durch den Schimmel des Brotes war der Käse blau geworden. Wir haben für alles Legenden.«

    Der Besitzer der Schafherde, an die Pierre Laur mich verwiesen hatte, hieß Giraud und hatte mit seinem ältesten Sohn eine Betriebsgemeinschaft gegründet. So bleibt das Geschäft in der Familie. Um ihre 400 Tiere zu ernähren, benötigen sie 400 Hektar Weideland.
    Daran werde ich bei der Hochzeit von Roland und Claudine erinnert. Denn meine Tischnachbarn erklären mir, dass ihr größtes Problem der Klimawandel sei. Früher habe es in zehn Jahren einmal eine Dürreperiode gegeben. Jetzt kämen die Trockenzeiten schon alle vier oder fünf Jahre. Das bereitet nicht nur Probleme bei der Ernährung der Tiere, sondern habe auch

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