Neugier und Übermut (German Edition)
der dem Geiste Kants verschworene deutsche Asket nicht leisten, sich wie Gargantua barbarisch »dem reinen Genuss« auszuliefern. Und dann noch einem Schimmelprodukt!
Im Sommer 2010 heiratete Roland Barthélemy zum zweiten Mal. Er hatte sich in die schöne Claudine verliebt, die Erbin des besten Käsegeschäfts von Carpantras in der Provence. Claudine wurde 2009 als beste »Fromagère« Frankreichs ausgezeichnet und zusätzlich hat sie sich zur Sommelière ausbilden lassen.
Es war ein warmer, schöner Juliabend, als ich in der Nähe von Carpantras am Hochzeitstisch von Roland und Claudine gegenüber einem Ehepaar saß, das Salers produzierte, einen köstlichen, mürben Hartkäse. Von der Kuhmilch bis zum fertigen runden Laib lag die gesamte Herstellung in ihrer Hand. Roland und seine Claudine hatten das Festmahl über ein Jahr lang vorbereitet. Sie hatten bei dem befreundeten Paar einen großen Laib Salers für den Käsegang ausgesucht und in die Rinde »Roland et Claudine« eingravieren lassen. Dann war der Käselaib ein Jahr lang mindestens zweimal die Woche mit einem alten Hemd abgerieben worden.
Als zweiten Käse präsentierten sie einen frischen Ziegenkäse, der von einer alten Frau am Ende eines Tales aus der Milch ihrer Ziegenherde hergestellt wurde. Auch er eine Rarität! Reich wird man nicht als Käseproduzent. Aber man arbeitet aus Liebe zu diesem besonderen Produkt und nicht um des schnöden Mammons wegen.
Weshalb so viel Aufhebens um Käse?
»Alles Käse« nennt ein Deutscher abfällig, womit er nicht einverstanden ist. Oder: »Käse schließt den Magen«, so als sei er ein Stöpsel, der schwer auf Braten und Tunke liegt.
Ganz anders ein Franzose, bei dem Schimmel keine intellektuell gnadenlosen Debatten auslöst. Fromages maintiendront lautet der Wahlspruch der Compagnons de Saint-Uguzon, deren Propst Roland Barthélemy vor Jahren geworden ist, und die Compagnons haben sich geschworen, die Qualität des Käses zu bewahren, Käse hält den Menschen aufrecht. Um seinen fromage, im übertragenen Sinn eine Sinekure, eine Pfründe, wird der Elitezögling beneidet, der sich im französischen Staatswesen wie eine Käsemade fühlt und einen hochdotierten Nebenjob erhält.
Der Käsehändler Roland war für mich, als ich in Paris als Korrespondent arbeitete, auch eine wichtige politische Informationsquelle. Vor Wahlen lud ich ihn zum Essen ein und fragte ihn danach, was wohl seine Kundschaft redete? Danach korrigierte ich dann für mich die Umfrageergebnisse – meist zu Recht: denn die Konservativen, besonders der rechtsradikale Front National erhielt meist mehr als erwartet, zumindest im ersten Wahlgang. 2002 schaffte es der FN-Chef Jean-Marie Le- Pen sogar in den zweiten Wahlgang.
Doch Roland war bei diesen Treffen oft schlechter Laune.
»Die Leute kaufen nicht mehr ein – wegen der Wahlen«, sagte er mir.
»Weshalb kaufen die Leute nicht zur Wahlzeit?«, fragte ich.
»Das war schon immer so. Als ich den Laden vor 20 Jahren übernahm, zeigten die Bücher stets Gewinne, aber in Wahlzeiten einen Rückgang um 15 Prozent. Warum das so ist, weiß kein Mensch; aber alle Geschäfte ringsherum verzeichnen, wenn gewählt wird, den gleichen Rückgang.«
Bei Präsidentschaftswahlen leidet das Geschäft besonders lange. Zuerst werden zwei Wahlgänge absolviert, und meist wird hinterher auch noch die Volksversammlung aufgelöst. Grässliche Vorstellung, das Geschäftsleben kommt nicht zur Ruhe!
Aber in dieser Situation holt Roland dann verschmitzt lächelnd sein Goldenes Buch hervor und schlägt die Seite auf mit dem Eintrag von Frankreichs ehemaligem Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing, der geschrieben hat, was ein anderer Staatspräsident, der immer noch hochgeschätzte Charles de Gaulle, einmal gesagt hat: »Wie kann man bloß ein Land mit 365 Käsesorten regieren?«
Eines Tages erhielt ich im ARD-Studio Paris einen Anruf aus der Heimatredaktion. Ob ich gehört hätte, dass die deutsche Käse- Industrie die Gerichte gegen den französischen Rohmilchkäse bemühe? Nein, davon hatte ich noch nichts gehört. Aber dann brach ein richtiger Käsekrieg zwischen den Ländern des Nordens und denen des Südens aus. Fabrikkäse gegen Handgemachten. Neuerdings gab es nämlich eine europäische Listerin- Verordnung. Die Rinde von Rohmilchkäse ist ein beliebter Aufenthaltsort der Listerin-Bakterie, die allerdings durch Erhitzen abgetötet werden kann. Bei Erwachsenen verläuft die von diesen Bakterien
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