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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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genannten Prüderie, die von der christlichen Kirche ausging?
    Mein Blick für den Bruder des letzten Kaisers von China war schon einige Jahre zuvor geschärft worden, als nämlich die Autobiographie des »Himmelssohns« in Deutschland erschienen war. Ich hatte das Buch für den »Vorwärts« besprochen.
    Diese Biographie hat Bernardo Bertolucci dann 1987 als Vorlage für seinen Film »The Last Emperor« gedient, der mit neun Oscars – darunter bester Film und bester Regisseur – ausgezeichnet wurde. Und Bertolucci hat sich auch des Rates von Kaiserbruder Pujie bedient und ihn während der Dreharbeiten als »technical adviser« angestellt.
    Im Alter von zweieinhalb Jahren war Pu Yi zum Himmelssohn proklamiert worden, mit sechs musste er jedoch schon wieder abdanken. Ähnlich turbulent ging es weiter: Mit elf saß er für einige wenige Wochen auf dem Thron, mit achtundzwanzig als Kaiser von Mandschukuo von den Japanern inthronisiert, mit neununddreißig russischer, dann chinesischer Kriegsgefangener.
    Plötzlich war er auf sich selbst gestellt, plötzlich bedienten ihn keine Eunuchen, keine Verwandten mehr: »In den mehr als vierzig Jahren, die hinter mir lagen, hatte ich kein einziges Mal auch nur eine Decke zusammengelegt, mein Bett gemacht oder auch nur je mein Waschwasser ausgeleert. Ja, sogar meine Füße hatte ich nie selbst gewaschen und auch meine Schuhbänder nie selbst zugeschnürt …«
    Pu Yi wird von den Kommunisten, die sich ja nicht scheuen, Millionen Menschen während der Kulturrevolution zu ermorden, sorgsam behandelt. Er muss lernen, sich als ein solidarischer Bürger unter anderen zu verstehen. Er wird nicht »umerzogen«, er wird im Gefängnis angeleitet, sich selbst zu schulen. Nach vielen Rückschlägen wird er nach neun Jahren mit dreiundfünfzig begnadigt, in Peking Botaniker und schließlich sogar in den kommunistischen Nationalkongress des chinesischen Volkes berufen. Natürlich ist diese Biographie eine Propagandaschrift, trotzdem las ich sie mit Faszination, weil hier die Wandlung eines Kaisers, der auch als Himmelssohn kein freier Mensch war, beschrieben wird, es entsteht kein »neuer Mensch«, sondern der alte entfernt die Fesseln einer feudalen Traditionsgesellschaft und mit ihnen den bürgerlichen Egoismus – um dann die Einordnung in die Masse zu akzeptieren, mit dem Ziel »dem Volke zu dienen«.
    Und in der Autobiographie von Kaiser Pu Yi spielt auch sein Bruder Pujie eine große Rolle. – Ohne Schwierigkeiten erhielt ich zu meinem Erstaunen die Genehmigung, den Kaiserbruder zu treffen und einen Film über ihn zu drehen. – Wahrscheinlich lag es daran, dass mein Vater zu jener Zeit als deutscher Diplomat in Peking lebte und die Chinesen davon ausgingen, der Sohn werde schon so berichten, dass er seinem Vater keine Schande bereiten würde.
    Pujie, der Bruder, stand natürlich einen Schritt näher an der Kulisse, aber eine Nebenrolle spielte dieser bescheidene, zier- liche Chinese gewiss nicht. Pujie war noch nicht einmal zwei Jahre alt, als sein um ein Jahr älterer Bruder 1908 – im Alter von noch nicht ganz drei Jahren – zum Kaiser ernannt wurde.
    Pujie kam mir im Obstgarten seines Hauses in Peking entgegen, begleitet von seiner japanischen Frau, und begrüßte mich auf Deutsch: »Guten Tag, herzlich willkommen!«, fügte aber gleich auf Chinesisch hinzu, dies seien in der ihm fremden Sprache die einzigen Worte, an die er sich erinnere. Er bat mich einzutreten. Der im traditionellen chinesischen Stil gebaute Atriumbau, den er und seine Frau bewohnten, war Ausdruck dafür, wie privilegiert die kommunistische Regierung ihn inzwischen behandelte. Sogar eine Haushälterin ging dem alten Ehepaar zur Hand.
    Einige Stufen führten vom Garten direkt ins Wohnzimmer, wo am Fenster der Schreibtisch stand, an dem Pujie seinem Hobby nachging – der Kunst der Kalligraphie, des Schönschreibens. Er setzte sich hin, ergriff einen rot umränderten Karton, tröpfelte ein bisschen Wasser auf einen Tuschstein, rührte mit einem anderen Stein ein wenig Tusche an und nahm mit einem Wolfhaarpinsel ein wenig Farbe auf. Mit geübtem Schwung malte er acht komplizierte Schriftzeichen – von oben nach unten, von links nach rechts – in drei Reihen, fügte in kleinerer Schrift noch acht weitere hinzu und blickte zufrieden auf sein Werk. Dann drückte er einen kleinen viereckigen Stempel auf ein winziges rotes Kissen und übertrug sein Siegel als Schlusspunkt neben das letzte Tuschzeichen.
    »Darf ich

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