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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Ihnen als Gastgeschenk einen bescheidenen Versuch überreichen«, sagte er. Der Dolmetscher übersetzte. Ich fragte, nachdem ich sein Werk gebührend bewundert hatte: »Und was haben Sie mir aufgeschrieben?«
    »Es ist ein Satz von Mao, der zu Ihrem Besuch passt: Wir haben Freunde überall unter dem Himmel.«
    Merkwürdig, dachte ich mir, wie kann ein Kaiserbruder nun Mao zitieren? Ob er wirklich in der neuen Zeit angekommen war oder sich nur der neuen Macht anpasste? Wie sein Bruder war auch er Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas geworden, nach dem Tod Maos 1976 und der Verhaftung der Viererbande wurde er sogar Abgeordneter von Shanghai im 5. Nationalen Volkskongress.
    Wenn Pujie seine leise Stimme zum Erzählen erhob, erschlug die Zeitansage der Wanduhr fast jedes Wort. Auf dem Schreibtisch öffnete er das Fotoalbum, einziges Erinnerungsstück aus der alten Zeit.
    Beim Anblick des Bildes der beiden Knirpse in kaiserlicher Tracht am Thron in der Verbotenen Stadt konnte ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Obwohl noch keine achtzig Jahre zwischen jener Aufnahme und dem Tag meines Besuches bei Pujie lagen, schienen Pujie und die Fotos ineinander zu verschwimmen wie in ein fernes Märchen.
    Dieser Bruder des letzten chinesischen Kaisers verkörperte den Übergang in die neue Zeit, an der er aktiv teilgenommen hatte. Allerdings hat Pujie versucht, zugunsten seines Bruders, und damit gewiss auch für sich, die Zeitläufte aufzuhalten.
    Als knapp dreijähriger Kaiser, wurde sein Bruder in den Armen seiner Amme in die Verbotene Stadt gebracht, von wo aus er herrschen sollte – in Wirklichkeit wurde er natürlich missbraucht. Weder der Vater der beiden Brüder noch Mutter oder gar Geschwister von anderen Frauen des Vaters durften die Majestät begleiten. Sie blieben in ihrem Stadtpalast wohnen. Der Kindkaiser kam in die Obhut der intriganten Witwen des verstorbenen Kaisers. Damit der Kaiser aber einen gleichaltrigen Gespielen und auch Klassenkameraden haben würde, wurde ihm sein jüngerer Bruder Pujie an die Seite gestellt.
    Der Vater der beiden Jungen, Bruder des verstorbenen Vorgängers des Kindkaisers, war jener Prinz Chun, der 1901 auf Verlangen von Graf Waldersee, dem Oberkommandierenden der Alliierten im Boxerkrieg, an den deutschen Kaiserhof geschickt wurde, um das Bedauern der chinesischen Regierung über die Ermordung des deutschen Gesandten von Ketteler auszudrücken. Für einen Chinesen kann dies den Verlust des Gesichtes bedeuten. Und das hofften in Peking auch diejenigen Hofschranzen, die dafür gesorgt hatten, dass die Wahl auf Prinz Chun fiel, der sich vor dem deutschen Kaiser mit einem Kotau unterwürfig zeigen sollte. Doch zum Entsetzen der Intriganten in der Verbotenen Stadt wurde Chun in Berlin nicht etwa gedemütigt, sondern mit Prunk und Ehren im deutschen Kaiserreich empfangen.
    Pujie, ein zierlicher Mann, mindestens zwei Kopf kleiner als ich, wirkte wie ein Intellektueller mit seiner hohen Stirn und einer großen Hornbrille. Sein weißes Hemd hatte er bis zum Hals zugeknöpft und drüber trug er eine Weste ohne Kragen. Seine japanische Frau hatte ein Seidenkleid angelegt und trug um den Hals eine Perlenkette.
    Obwohl er nicht in den kaiserlichen Gemächern der Verbotenen Stadt wohnte, kannte sich Pujie dort so gut aus wie kaum ein anderer. Er würde uns dort gern einiges zeigen, das nur er erklären könnte, sagte er, und so stiegen wir in den Wagen und fuhren mit ihm und seiner Frau dorthin. Die Wachen waren informiert und so durfte unser Wagen sogar bis in einen der inneren Höfe fahren.
    »Ich gehe hier noch häufig spazieren«, sagte Pujie, »mein Bruder, der Kaiser, und ich, wir trafen uns hier täglich zum Spiel oder Unterricht.« Und später zur gemeinsamen Verschwörung, dachte ich, sprach ihn aber nicht darauf an.
    »Viel lieber als ›Regieren‹ spielte der Kaiser mit mir Versteck in den Gemächern des Palastes«, er zeigte uns die Räume, die dem Kaiser vorbehalten waren, und deutete verschmitzt auf das Dach mit den kunstvoll gelb glasierten Ziegeln. »Hier sind wir immer wieder hinaufgeklettert und haben die diensttuenden Eunuchen erschreckt.«
    Und dann fasste er mich am Arm, kicherte und zog mich zu einem langen Gang im westlichen Teil der Verbotenen Stadt. Hundert Meter lang wird er gewesen sein, unterbrochen von einem Dutzend Pforten.
    »Fällt Ihnen hier etwas auf?«, fragte er mich.
    So sehr ich mich auch mühte, ich begriff nicht, was er meinte. Ich, der tumbe

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