Neugier und Übermut (German Edition)
Auch nicht teuer, wenn man bedenkt: Das war ein ganzer Satellit. Es war so preiswert, weil amerikanische Funkamateure den Satelliten in ihrer Freizeit bauten, mit Hilfe der entsprechenden Eierköpfe der Universität von Princeton, denen deshalb die Ehre zukam, das Gerät nach Erreichen seiner Umlaufbahn anzuwerfen.
»Von jetzt an sendet der Satellit Friedensbotschaften. Deshalb habe ich ihn ›Peacetalker‹ genannt«, sagte Junior Torres bescheiden, so als wäre dies das Alleralltäglichste. »Ich bin um die ganze Welt gereist und habe sechstausend Botschaften von Schulkindern zwischen acht und zwölf Jahren eingeholt.«
Was da so alles gefunkt wird in allen wichtigen Sprachen der Welt?
»Ohne Krieg, ohne Hass,
macht das Leben wieder Spaß.«
Schulklassen können die verwirklichte himmlische Vision im Geographieunterricht nutzen, wenn sie richtig peilen: Der Sa- tellit erzählt dann, über welcher Stadt dieser Erde er sich gerade befindet, auf welchem Breiten- oder Längengrad er seine Bahn zieht. Achttausend Namen von Orten auf allen Erdteilen hat Junior Torres de Castro in dem Gedächtnis dieses seines liebsten Kindes gespeichert, und die künstliche Stimme kann in der jeweils gewünschten Sprache dem nach dem Standort Fragenden antworten.
Der Start einer Weltraumrakete spült selbst dem Unbeteiligten Adrenalin ins Blut. Wie muss es da einem Satelliteneigner gehen? Junior Torres freut sich wie ein Kind. Ich reiche ihm ein Glas Champagner, doch er lehnt ab, hebt nur den Daumen siegesfroh und schreitet wieder zur Telefonzelle mitten im Dschungel, um seine Frau in Brasilien anzurufen. Dort, in seinem Privathaus, hat er eine eigene Satellitenkontrollstation eingerichtet. Von irgendwoher muss schließlich selbst der kleinste Satellit gesteuert werden.
Kürzlich habe ich ihn wiedergesehen, inzwischen hat er weiße Haare und eine neue, wieder riesengroße Brille. Und er steuert noch immer seinen »Peacetalker«, der inzwischen schon mehr als zwanzig Jahre lang funktioniert. Auf dem Internet- Video-Portal YouTube, eine Einrichtung, von deren möglicher Existenz bei unserem Besuch auf den Teufelsinseln und dem Start der 35. Arianerakete noch kein Mensch eine Vision hatte, kann man es sich jetzt anschauen.
Der Kaiser und der Revolutionär
Der Bruder des Kaisers von China
Der Kaiser von China war sein Bruder. Der Kaiser hieß Pu Yi, der Bruder Pujie. Und als ich im September 1979 hörte, dass er in Peking lebte, stellte ich bei der Kommunistischen Regierung den Antrag, ein Filmporträt über Pujie (den man Pu Dschiä ausspricht) drehen zu dürfen. Denn ich befand mich für einige Wochen mit Kameramann Michael Giefer auf Drehreise in China.
China hat immer ein wenig zu meiner Identität gehört. Mein älterer Bruder war in Shanghai geboren worden, weil meine Eltern von 1939 bis 1941 dort lebten. Sie zogen dann nach Tokio, wo ich zur Welt kam. Mein Vater hatte China schon 1936 als Student besucht, später einen beachteten Roman über die Taiping-Revolution im 19. Jahrhundert geschrieben, und noch später das Tagebuch von John Rabe, dem guten Deutschen von Nanking, entdeckt, aus dem ein deutscher und auch ein chinesischer Film entstanden.
Klassische chinesische Literatur stand zu Hause im Bücherschrank und war für uns unterhaltsame Lektüre. Zunächst versank ich in »Die Räuber vom Liang-shan Moor« – eine chinesische Version von Robin Hood, wenn auch sehr viel ausführlicher und abenteuerlicher, dann las ich »Der Traum der roten Kammer«, auch wenn ich, jung wie ich war, die erotischen Anspielungen nicht verstand, schließlich das hinter anderen Bücherreihen versteckte »Kin Ping Meh«, ein Sittengemälde, geschrieben wohl um 1600, in dem viele Szenen in allen Einzelheiten dargestellt werden, was einen Jungen ja besonders interessiert.
Ich habe mir damals oft die Frage gestellt, welchen Unterschied es im 16. und 17. Jahrhundert zwischen der chinesischen Hochkultur und der deutschen gegeben haben mag. Denn in Deutschland, ja vielleicht in ganz Europa, hat niemand die Dreistigkeit besessen, den Verfall der bürgerlichen Familie am Beispiel der Sexualität ihres Oberhauptes in so bunten Bildern zu schildern, etwa wenn es seinen blühenden Pflaumenast in die goldene Vase steckt. Und dann wurde das »Kin Ping Meh« in China auch nicht schamhaft versteckt, sondern gehörte als einer der wichtigsten Klassiker der chinesischen Literatur zum allgemeinen Bildungsgut. Liegt es vielleicht an der »Sexualethik«
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