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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Europäer, erkannte nicht auf den ersten Blick, dass die bis zu zwanzig Zentimeter hohen Schwellen – je höher, desto feiner das Haus – entfernt worden waren. Eine Schwelle, so hat mir jemand später erzählt, hat eine besondere Aufgabe: Da böse Geister ihre Beine nicht heben können, können sie einen Raum nicht betreten, wenn sie hohe Schwellen daran hindern.
    Die Schwellen waren also in diesem langen Gang entfernt worden.
    »Weshalb?«, fragte ich den Kaiserbruder naiv.
    »Hier«, erklärte Pujie lächelnd, »fuhr der Kaiser mit dem Rad in den Garten, deshalb ließ er die Schwellen entfernen.«
    Pujie und der Kaiser waren in ihren Bewegungen durch die wahren Machthaber am kaiserlichen Hof, durch Bürgerkriegsgeneräle, durch die Einflüsse der europäischen Kolonialmächte eingeschränkt; sie waren Muppets – wie man im Fernsehzeitalter sagen würde –, in Seide gekleidete Handpuppen, die allerdings nach Selbstständigkeit strebten.
    1912 – er war gerade sechs – musste der Kaiser abdanken, durfte aber weiterhin im Palast wohnen und behielt auch die »Kaiserwürde«. 1917 wurde er für wenige Wochen nochmals auf den Thron gehoben. 1924 organisierte Pujie die Flucht seines Bruders aus der Verbotenen Stadt, in der sie wie Geiseln lebten. Obwohl ein Jahr jünger als der Kaiser, war Pujie weitaus weltläufiger und konnte sich – anders als sein streng bewachter Bruder – frei in Peking bewegen.
    »Die erste Vorbereitung zur Flucht«, so erinnerte er sich, »be- stand darin, uns finanziell unabhängig zu machen. Das klingt vielleicht merkwürdig, denn mein Bruder hatte alles Geld der Welt, er konnte sich erlauben, aus purer Laune heraus für 30 000 Dollar zum Frühstück Diamanten zu kaufen. Aber die Diamanten wurden dann dem kaiserlichen Schatz einverleibt und standen ihm nicht zur Verfügung.«
    Im Kaiserpalast waren im Laufe der Jahrhunderte unermessliche Schätze in Gold, Edelsteinen, Bildern und Antiquitäten angehäuft worden. Das zerfallende Reich ließ dann – ob Palasteunuchen, marodierende Bürgerkriegsgeneräle oder hinterlistige Prinzen – jeden zugreifen, der nur irgendwie die Möglichkeit dazu hatte.
    In diesem Palast nun sannen die beiden inzwischen knapp zwanzigjährigen Brüder, zwei Lausbuben, wie der Kaiser dem Einfluss des monarchistischen Clans entfliehen könnte. Die Finanzen beschafften sie sich ganz legal, indem der Kaiser als Aufmerksamkeit und Gunstbeweis seinem Bruder jeden Tag eine kostbare Antiquität, Edelsteine oder wertvolle Gemälde schenkte, die Pujie in ein Haus in der japanischen Kolonie Tientsin schaffte. Dort würde der Schatz vor den Nachstellungen der Hofschranzen sicher sein.
    Doch geblieben ist Pujie nichts von den Millionen, die er damals abschleppte. Der Kaiser floh, als Bürgerkrieg und politische Wirren einen Höhepunkt erreichten, nach Tientsin und geriet unter japanischen Einfluss. Die Japaner drangen darauf, dass Kaiserbruder Pujie nach Japan reiste, um die Sprache zu lernen und die Kaiserliche Akademie der japanischen Armee zu besuchen.
    »Es war klar, das japanische Militär wollte ein Faustpfand haben. Mit mir in Japan hätten sie jeden Einfluss auf den Kaiser«, sagte Pujie. »Und ich wiederum hoffte, meinem Bruder erneut zur Macht verhelfen zu können.«
    Die Japaner aber hatten eigennützige Pläne. 1932 setzten sie Kaiser Pu Yi wieder auf einen Thron, im Kaiserreich Mandschukuo, der japanisch besetzten Mandschurei.
    Und dann deutete Pujie auf seine Frau: »Meine Frau habe ich auch auf Betreiben der japanischen Kwantung-Armee geheiratet. Mir wurden eine Reihe von Fotos japanischer Adelstöchter vorgelegt. Ich suchte Hiro Saga aus, die mit dem japanischen Kaiserhaus verwandt ist. Die Hochzeit hatte dann eine eindeutig politische Bedeutung. Zwischen China und Japan sollte eine persönliche Beziehung entstehen und – da mein Bruder keine Kinder hatte – japanisches Blut mit dem unserer kaiserlichen Familie vermengt werden.«
    Zärtlich schaute Pujie seine Frau Hiro Saga an. Beim Gehen führte er sie liebevoll, jeden Schritt an der Hand, denn die Knie machten ihr Schwierigkeiten.
    Nur ungern erinnern sich beide an das Abenteuer in Mandschukuo, das 1945 mit der Niederlage der Japaner endete. Der Kaiser und Pujie kamen in russische Gefangenschaft. Hiro Saga konnte mit den beiden gemeinsamen Töchtern nach Japan fliehen. Nach dem Sieg der Chinesischen Revolution, heute »Befreiung« genannt, wurden die Brüder von den Russen an die Volksrepublik China

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