Neugier und Übermut (German Edition)
er noch ein bisschen. Als Direktor eines Krankenhauses. 1950 wurde er Professor und Leiter der Militär- Medizinischen Hochschule in Changchun. Und ein Jahr später erhielt er die Chinesische Staatsbürgerschaft und trat in die Kommunistische Partei ein. Im Alter von 38 Jahren wurde er Dekan der medizinischen Fakultät. Auch die Familie wuchs: ein Sohn, eine Tochter. 1960 brach er unter der Last der Arbeit zusammen. Das Herz machte Probleme. Er wurde nach Peking versetzt, wo er es bis zum Vizerektor der Medizinischen Hochschule in Peking brachte und bald die Pekinger Medizinische Akademie leitete, ein Amt, das er zur Zeit meines Besuchs noch bekleidete.
Und der Kommunismus? Ideologie blieb ihm immer fremd. Ganz sachlich sah er den Zustand Chinas. »Leider kann man niemandem schildern, wie das alte China wirklich aussah«, klagte er. »Damals, als ich in das Land kam, lag die Lebenserwartung bei fünfundzwanzig Jahren. Verhungernde säumten die Straßen. Heute kennt man keine Hungersnöte mehr.«
Doch Müller sah auch realistisch, dass China dreieinhalb Jahrzehnte nach der Befreiung noch ein armes, ein sehr armes Land war. »Diese Armut wird auch so schnell nicht überwunden werden«, sagte er voraus.
Zwar war er in den Chinesischen Volkskongress aufgenommen worden, aber als vollwertiger Chinese fühlte sich Hans Müller nie. »Die Nase ist zu groß, wie man hier in China sagt.«
Und als ich ihm erzählte, was ich wegen meiner langen Nase erlebt hatte, musste er laut lachen. Ich war zu den Gelben Bergen in der Provinz Anhui gefahren. Sie sind für Chinesen fast ein heiliges Gebirge. Dort stehen die Willkommen-Kiefer und die Abschieds-Kiefer, die man auf so vielen Tuschemalereien sieht. Besucher klettern auf die 1800 Meter hohen Gipfel der Granitfelsen über Treppen, die vor Jahrhunderten in Stein geschlagen worden waren, weil ein Kaiser die Berge besteigen wollte. Als ich hinaufstieg, begegnete ich einer chinesischen Familie mit Kindern. Das Kleinste fing plötzlich an, hysterisch zu schreien. Alle drum herum lachten. Als ich fragte, was so komisch sei, lachten sie umso lauter. Das Kind hatte auf meine große Nase gezeigt und geschrien: »Was ist das für eine große Katze?«
Die großen Nasen und Füße der Weißen haben schon immer Spott bei den Chinesen hervorgerufen. Prägte doch die Vorstellung von kleinen Füßen über tausend Jahre so sehr das chine- sische Schönheitsideal, dass kleinen Mädchen schon die Zehen gebrochen und eingeschnürt wurden, sodass »Lotusfüße« entstanden, klein wie die Blüte einer Lilie oder einer Lotusblüte. Ein besonders gelungener Lotusfuß galt als besonders erotisch.
Meine – wahrscheinlich sehr deutsche – Vergangenheitsbewältigungsfrage, ob sich sein persönlicher Kampf gegen Hitler gelohnt habe, erstaunte Hans Müller. Er dachte nach und sprach in seiner bedachtsamen Art. »Unter den Bedingungen, unter denen ich Deutschland verlassen hatte, konnte ich kaum einen besseren Weg wählen. Ich bin mit meinem Leben zufrieden. Aber ein Vergnügen war es bestimmt nicht, vor den Japanern wegzulaufen.« Und das sagte er in einem Ton, als wolle er jetzt gern zur Tagesordnung übergehen.
Als Hans Müller 1994 an Herzversagen starb, schickten alle, die Rang und Namen in China hatten, Blumen: Staatspräsident Jiang Zemin, Außenminister Qian Qichen, Gesundheitsminister Chen Minzhang und die gesamte medizinische Gemeinde. Und ihm wurde noch eine große Ehre zuteil. Beerdigt wurde das rheinländische Mitglied des chinesischen Volkskongresses auf dem Babaoshan Revolutionärer Friedhof, wo auch sein Bridgepartner Deng Xiaoping und sein ehemaliger Kriegschef General Zhu De liegen, aber auch Pujie, der Bruder des letzten Kaisers von China. Sogar Pu Yi, der letzte Kaiser, war eine Zeit lang hier begraben, bis seine Asche in das östliche Qing Mausoleum bei Peking umgebettet wurde.
Nach solch einem Lebensweg, so abenteuerlich er war, lässt sich wahrscheinlich zufrieden ruhen.
Neugier wird belohnt
Tennis mit Arthur Miller,
Kaffee mit Meryl Streep
Wer neugierig genug ist, kann in New York jeden treffen. Ob Meryl Streep, Woody Allen oder damals, als sie noch lebten, Arthur Miller, Roy Lichtenstein oder Tennessee Williams. Zumindest fast jeden.
In seiner ganz großen Zeit drehte Woody Allen jedes Jahr einen Film in New York. Nicht immer in Manhattan. Ich war ein großer Fan seiner komischen Psychodramen. Und ihn zu treffen war ganz einfach.
Seine Schwester Letty Aronson, die ich im
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