Neukölln ist überall (German Edition)
Bürgermeister von Berlin macht ihm in seinem Büchlein Mut zur Integration die Aufwartung. Zwar keine gute, aber immerhin. Gehört sich ja auch so, denn Thilo Sarrazin stand, von ihm gut behütet, von 2002 bis 2009 als Finanzsenator treu in seinen Diensten.
Egal, vor welchem Hintergrund und ob er als schlechtes oder gutes Beispiel Verwendung finden soll, irgendwann fällt bei Gesprächs- und Diskussionsrunden zur Bevölkerungsentwicklung, zur Einwanderung oder auch zur Frage der Vererbung menschlicher Eigenschaften sein Name. Meist gibt es dann keine Zwischentöne. Begeisterung und Beifall hier, Abscheu und Verdammnis dort. Dabei ist er aber irgendwie immer. Es ist erstaunlich, welchen Eindruck und welch tiefe Spuren Thilo Sarrazin bei Menschen unterschiedlichster Couleur und insbesondere unterschiedlichsten Alters hinterlassen hat. Er hat eindeutig Kultstatus. Im Positiven wie im Negativen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum so viel in ihn und in sein Buch hineingeheimnist oder hineininterpretiert wird. Wenn ich Teil solcher Diskussionen bin, stelle ich häufig fest, dass viele Menschen, die sich breit und ausladend, emotional oder unterkühlt, fanstimuliert oder hasserfüllt über ihn äußern, das Buch gar nicht gelesen, geschweige denn verarbeitet haben können. Es werden Thesen, Aussagen oder angebliche Zitate wiedergegeben, für die es im Buch keinen Beleg gibt. Es werden Dinge durcheinandergeworfen, es entsteht ein Mix aus Interviews, Zeitungsveröffentlichungen, Vorabdrucken, Kommentaren und Fehlinformationen, der eigentlich nicht seriös ist. Aber so entstehen Mythen. Allerdings leben sie nach dem Gesetz der »stillen Post« davon, dass sie in der Überlieferung von Mund zu Mund auch einer Eigendynamik unterworfen sind.
So, wie Thilo Sarrazin sein Buch geschrieben, so, wie er einige Formulierungen gewählt und so, wie er Fakten in Beziehung gesetzt hat, hätte ich es nicht getan. Aber es ist ja auch sein Buch und nicht meines. Zugeben muss ich, dass er die ideologisierte Integrationsdebatte erfolgreich vitalisiert und aufgemischt hat. Was mir persönlich in seinem gesamten Buch fehlt, ist eine innere Teilnahme an dem Thema, eine Hinwendung zu den gesellschaftlichen Entwicklungen. Einfach ein Stück Leidenschaft und Emotionalität. Das Buch macht einen kalten Eindruck. Es signalisiert, dass der Autor mit großer innerlicher Distanz Daten zusammengetragen und hieraus synthetische Schlussfolgerungen gezogen hat. Die mangelnde Empathie führt wohl auch dazu, dass ihm der Blick zur Differenzierung an vielen Stellen gefehlt hat. Was nutzt mir die sorgfältigste Analyse, wenn mein Lösungsansatz nicht zur Behebung des Problems führt, sondern selbst zum Problem wird?
Bis zum Beginn seiner neuen Identität als Autor kannte ich Thilo Sarrazin nur aus seiner Funktion als Berliner Finanzsenator. Meine Rolle als Geld fordernder Bürgermeister eines Brennpunktbezirks und seine als beinharter Haushaltskonsolidierer führten uns schon von Hause aus in eine kritisch-solidarische Distanz. Bezirkspolitiker waren für Thilo Sarrazin »Gänse, die laut schnattern, aber keine Eier legen können«. Irgendwie fühle ich mich bis heute dadurch noch diskriminiert, obwohl ich ihm menschlich inzwischen verziehen habe.
Die Frage für mich war nun, wie nähere ich mich Thilo Sarrazin? Rein theoretisch, so, wie er es tun würde, also nur anhand seiner Veröffentlichungen, die alle in meinem Büro liegen? Oder sollte ich mit ihm die bereits im Dutzend billiger vorhandenen Interviews um ein weiteres bereichern und mich mit ihm über seine Thesen streiten? Sollte ich mich beckmesserisch an ihm abarbeiten, ohne ihm die Chance zu einer Gegenwehr zu geben? Letzteres ist nicht meine Welt. Also dachte ich mir, pack den Stier bei den Hörnern und setz dich bei ihm zu Hause auf die Couch. Mal sehen, was dabei herauskommt.
Gesagt, getan, ein Termin ist schnell vereinbart, und so fahre ich eines Morgens zu Thilo Sarrazin. Ein Platz auf der Couch ist für mich auch rasch gefunden, Thilo Sarrazin kocht uns einen Kaffee, und dann sind wir mit uns allein. Er, der Kater und ich.
Thilo Sarrazin macht auf mich einen zufriedenen, in sich ruhenden und entspannten Eindruck. Als ich auf sein Buch und seine Kritiker zu sprechen komme, kokettiert er erst ein bisschen. Er meint, dass die Verkaufszahlen und sein monatelanges Verharren in den Bestsellerlisten noch kein Indiz für Qualität seien. Die wirklich wichtigen Bücher schafften es nur selten
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