Neukölln ist überall (German Edition)
plötzlich sitzen der Kater und ich allein im Wohnzimmer. Thilo Sarrazin ist aufgesprungen, in ein oberes Stockwerk enteilt und kommt mit einer Ausgabe der Zeitschrift wieder. Ich muss mich in Geduld fassen. Etwa 15 Minuten referiert er, liest aus dem Text vor und bietet mir Belege dafür, dass er schon damals völlig missverstanden worden sei. Der Artikel stand unter dem Fokus »Berlin 20 Jahre nach dem Mauerfall mit den Augen des ehemaligen Finanzsenators«. Es sei überhaupt nicht um Integration gegangen, eher um Architektur, die Folgen der Teilung und in einem Randaspekt auch um die Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur. Darum, dass die Unterschicht in Berlin im Aufwuchs begriffen ist und dass sie es bei den Geburten bereits auf einen Anteil von 40 % bringt. Bis zu diesem Zeitpunkt, sagt Thilo Sarrazin entwaffnend, habe er sich mit dem Einfluss der islamischen Kultur auf das Bildungs- und Integrationsverhalten der muslimischen Migranten noch gar nicht intensiver befasst. Erst die Reaktionen auf das Lettre -Interview hätten ihn in diese Richtung gedrängt.
Natürlich frage ich nach den beiden berühmten Passagen, dass »er niemanden anerkennen muss, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert«, und dass »die große Zahl der Araber und Türken, die durch falsche Politik zugenommen hat, keine produktive Funktion außer für den Obst- und Gemüsehandel hat«. Diese Fragen lassen Thilo Sarrazin zu Höchstform auflaufen. Er zitiert aus dem Interview, er leitet ab, er demonstriert den Aufbau der Sätze und seiner Formulierungen, und er nennt es dann eine ins Anschauliche übersetzte, gründliche Analyse. Diese Floskel sollte mir im Gespräch noch öfter begegnen.
Ich hacke auf dem Begriff der »Kopftuchmädchen« herum. Ich frage Thilo Sarrazin, ob er sich als Agent Provocateur versteht oder ob die Formulierungen, die dann für einen Sturm der Entrüstung gesorgt haben, ein Versehen waren. Er bezeichnet seine Sätze als Formulierungen, für die er berühmt und berüchtigt sei, und erklärt, dass sie in der Sekunde des Sprechens geboren werden. Eigentlich sei es schade, dass es ein Lektorat für das Interview gegeben habe. Denn der unbereinigte Lettre- Text habe etwa das Zehnfache an Formulierungen enthalten, mit denen er »analytische Sachverhalte« anschaulich zusammengefasst hatte. Vielleicht ist es aber auch gut, dass wir von den berühmt-berüchtigten Formulierungen keine weiteren Kostproben erhielten. Auf den Punkt gefragt, gibt Thilo Sarrazin zu, dass es seine Entscheidung war, die Formulierung mit den »Kopftuchmädchen« im Text zu belassen.
Die Erfahrung mit der Lettre -Diskussion habe dann im Ergebnis aber dazu geführt, dass er sich entschloss, in seinem Buch ein eigenes Integrationskapitel aufzunehmen. Die Formulierungen im Buch empfindet er keineswegs vergleichbar provokant wie die »Kopftuchmädchen« oder den »Obst- und Gemüsehandel«. Als ich ihm zwei Beispiele nenne, die aus meiner Sicht eigentlich noch lästerlicher, wenn nicht herabwürdigender für andere Menschen sind, ist er nicht besonders einsichtig. Kritik an seinem Buch oder an seinen Thesen erträgt er nur mühsam bis gar nicht. Er verweist immer wieder auf Fußnoten, auf den Stand der Wissenschaft und auf seinen Text, der »ungemein klar und analytisch ganz sauber herausgearbeitet« sei.
Er kann sich aber auch wie ein Kind freuen. Sein ganzes Gesicht strahlt, wenn er die Anekdote erzählt, dass die FPÖ im Wiener Kommunalwahlkampf »Sarrazin statt Muezzin« plakatiert hat.
Ich erinnere Thilo Sarrazin an eine Diskussionsveranstaltung, in der ich ihm die sozialen Verwerfungen in Neukölln ausführlich schilderte. Ich fragte ihn damals, wie er als Finanzsenator denn gedenke, darauf Einfluss zu nehmen, dass wir in den sozialen Brennpunkten der Verwahrlosung und der Bildungsferne zu Leibe rücken. Seine Antwort lautete: »Du musst lernen, dass Politik nicht alle Probleme lösen kann.« In seinem Buch nun kritisiert er massiv, dass der Staat und die Politik sich nicht um die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse kümmere und tatenlos zuschaue, wie sich negative Entwicklungen verfestigen. Und so frage ich ihn jetzt, ob er mir noch einmal dieselbe Antwort geben würde wie damals. Er weicht aus und gibt mir mit auf den Weg, dass es nicht schlecht sei, »Geld für eine gute Sache auszugeben«. Bei dieser Antwort muss ich
Weitere Kostenlose Bücher