Neukölln ist überall (German Edition)
auf die Bestsellerlisten, sagt er. Nicht ohne aber gleich nachzuschieben, dass die kleine Buchhandlung bei ihm an der Ecke 2500 Exemplare verkauft habe und somit jeder dritte Haushalt in seinem Wohngebiet über ein Exemplar verfüge. Noch heute sprächen ihn häufig Menschen in der Öffentlichkeit an, darunter viele junge Leute und integrierte Einwanderer. Den Schwall an schier schrankenlosen Emotionen, Schmähungen und genauso unsachlicher wie nicht verstehen wollender Kritik bezeichnet er als Wut der Pharisäer. Also von Menschen, die durchaus im Besitz von Erkenntnissen sind, aber ihre fest gefügten Strukturen nicht gefährden wollen. Sie stellen keine Fragen, weil sie ungewollte Forderungen fürchten.
Dass er jetzt als der Bösewicht der Nation gilt, steckt er mit einem Lächeln weg. Auch dass er zur Personifikation des Trennenden geworden ist, dass er der Generalschuldige für alle Erscheinungsformen des rechten Randes in unserer Gesellschaft zu sein scheint, dass die Menschen Dinge auf ihn projizieren, weil sie einfach einen Schuldigen suchen, ficht ihn offensichtlich nicht an. Unabhängig davon, dass es ihn als Person nicht erreicht, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass diese Projektionen reflexartig stattfinden. Im gesellschaftlichen Diskurs habe ich immer wieder erlebt, dass eine Bezugnahme auf seine Person ganz schnell zum Ausschlusskriterium für die eigene Position wird, falls man nicht eilig eine Distanzierung zu erkennen gibt. Wenn diese dann auch noch mit möglichst verächtlichen Formulierungen garniert ist, dann ist der eigene Ruf wiederhergestellt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass man Thilo Sarrazin auch die Zwickauer Zelle anlasten würde, wenn sie nicht schon Mitte der 1990er Jahre entstanden wäre. Thilo Sarrazin ist der Beweis für auch heute noch mögliche Massenpsychosen.
In unserem Gespräch dreht Thilo Sarrazin den Spieß um. Er berichtet mir von Sitzungen des SPD -Landesvorstandes oder von Senatsvorgesprächen, in denen andere Teilnehmer über mich als verlachten Außenseiter herzogen. Ich war so eine Art Hofnarr auf Distanz. Wundersam fand er dann, wie ich mich in den Augen derselben Leute zum Integrationspapst von Berlin gewandelt habe. Und so erwartet er von mir nun keine Euphorie gegenüber seiner Person, aber ein klein wenig Dankbarkeit darüber, dass er mich nach dem Motto »Es gibt Schlimmeres als Buschkowsky« in die politische Mitte gerückt hat.
Seine Miene verdüstert sich, wenn er über den Umgang der Medien mit ihm spricht. Er skizziert zwei Beispiele. Das eine ist der Mitschnitt des RBB und WDR bei einer Vortragsveranstaltung von ihm. Zwei Sequenzen seiner Rede, die etwa 15 Minuten auseinanderlagen, wurden so zusammengeschnitten, dass sie in der Sendung den Eindruck erweckten, er hätte gesagt, Muslime sind dümmere Menschen. Das zweite Beispiel befasst sich mit einem Film, den die Fernsehjournalistin Güner Balci mit ihm produzieren wollte. Es kam zu dem bereits erwähnten Vorfall, bei dem sich eine Gruppe von Straßenprotestlern vor einem Restaurant aufbaute, in dem er etwas essen und mit dem Restaurantinhaber reden wollte. Er musste das Lokal verlassen, weil dem Besitzer Konsequenzen für das Lokal angedroht wurden, falls er Thilo Sarrazin bedient. Das gleiche wiederholte sich bei einer geplanten Diskussionsrunde am selben Tag im alevitischen Cem-Haus. Auch hier eskalierte die Situation so, dass die Aleviten die Diskussion absagten. Infolge dieser Ereignisse wurde Güner Balci der Auftrag entzogen, und Thilo Sarrazin sperrte das gesamte bis dahin entstandene Material.
Thilo Sarrazin nimmt diese beiden Episoden zum Anlass, um sehr barsch seine Kritik darüber zu äußern, wie kleingeistig dieses Berlin wirklich sei. Obwohl es sich selbst ständig als offene und tolerante Weltstadt feiere und der Regierende Bürgermeister diese Formel gebetsmühlenartig wiederhole, bleibe die Stadt in der konkreten Situation den Beweis schuldig. Wenn Thilo Sarrazin so vom Leder zieht, fühlt man sich als Zuhörer nicht ganz wohl in seiner Haut. Auch ich konnte das Prädikat als Akt politischer Reife, dass dieser Aktion von Mandatsträgern der Linkspolitik in Berlin zugebilligt wurde, nicht nachempfinden. Für mich war es eher Psychoterror, Intoleranz verbunden mit der Botschaft: Demokratisch und pluralistisch ist nur das, was unserer Vorstellung entspricht . Von Freiheit des Geistes keine Spur.
Auf meine Frage, wie er denn nun vom Statistikfreak zum Integrationspolitiker
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