Neukölln ist überall (German Edition)
mutiert sei, ist die Antwort erfrischend ehrlich. In den bürgerlichen Kreisen, in denen er sich mit seiner Frau privat vorwiegend bewegt, tauchen Migranten allenfalls in Gestalt der Putzfrau auf. Sonst wird dieses Phänomen nicht gesichtet. Man muss sich schon mit dem Fernglas auf die Reichsstraße stellen, um ein Kopftuch zu sehen. Das einzige, was er in seinem Alltag als Finanzsenator von Einwanderung und Migration mitbekam, waren die blauen Wolken über dem Tiergarten, wenn dort gegrillt wurde und der Dienstwagen ihn abends daran vorbei nach Hause fuhr.
Das hat ihn geprägt, auch wenn sich die Verhältnisse inzwischen in den bürgerlichen Wohnquartieren Berlins doch etwas verändert haben. Es ist aber nach wie vor so, dass die bürgerlichen Schichten alles auf ihre eigene konkrete Lebenserfahrung übertragen. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, dass sich an anderen Orten der Stadt inzwischen eine völlig neue Kultur und Lebensart mit divergierenden Wertestrukturen entwickelt hat. Das trifft auch auf Thilo Sarrazin zu. Nur seine Frau, die bereits in Köln und in Mainz als Grundschullehrerin mit migrantischen Schülerinnen und Schülern gearbeitet hatte, brachte ihm von Zeit zu Zeit derartige Veränderungsprozesse in der Gesellschaft nahe. Zum Beispiel, dass sie in Berlin inzwischen die Töchter von Müttern unterrichtet, denen sie früher als Schülerinnen das Einmaleins beibrachte. Der Unterschied bestehe allerdings darin, dass die heutigen Kinder weniger könnten als ihre Mütter. Hieraus lässt sich, so Thilo Sarrazin, nur der Schluss ziehen, dass sich eine ganze kulturell und lebensweltlich in Deutschland nur unzureichend integrierte Population entwickelt hat. Dramatisch ist aber, dass sie inzwischen auch das Gute aus der Kultur ihrer Eltern und Großeltern verloren hat.
Die dann immer intensivere Beschäftigung mit dem Thema der Integration führt er auf seinen Job als Finanzsenator zurück. Ihm ging es schlicht darum, die Geldforderungen der Bildungssenatoren Böger und Prof. Zöllner abzuwehren. Und so vertiefte er sich in die Ergebnisse der Pisa-Studie und begann alle Veröffentlichungen zu Bildungsfragen zu sammeln. Wenn er den Werdegang so schildert, fehlt es natürlich nicht an selbstbewussten Randbemerkungen. Dass er in den entsprechenden Senatssitzungen dann mehr von sozioökonomischen Strukturen der Schülerpopulation oder dem Schüler-Lehrer-Verhältnis in Berlin und anderen Bundesländern oder auch zum Leistungsstandard der Berliner Schulen verstanden habe als die sogenannten Fachsenatoren.
Er kritisiert, dass Berlin – im Vergleich mit den anderen Bundesländern – seine Gymnasien personell schlechter ausstattet, und begründet damit den Leistungsverfall. So könne eine Stadt mit Eliten nicht umgehen. Natürlich bekommt auch die Unterschicht sofort ihr Fett weg. Er referiert die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen, indem er vorträgt, dass der Anteil unterversorgter Zähne bei Kindern osteuropäischer Herkunft dreimal so hoch ist wie bei Deutschen und dass die Mängel bei der Visuomotorik (das für die kognitive Entwicklung wichtige Vermögen, visuelle Wahrnehmung und Bewegungsapparat, zum Beispiel Auge und Hand, zu koordinieren), die häufig die Ursache späterer Lernstörungen sind, bei den arabischen Kindern zehnmal so häufig auftreten wie bei Kindern aus deutschen bürgerlichen Familien. »Mangelhafte Zahnpflege, Übergewicht und Bewegungsmangel der Kinder sind keine Fragen des Geldes und des materiellen Standards ihrer Familien«, doziert er. Nach wie vor scheint er Gefallen daran zu haben, gesellschaftlich Schwächere zu schulmeistern. Denn nahtlos schließt er an, dass sich eben die Berliner Unterschicht zu einem großen Teil aus Türken und Arabern zusammensetzt.
Schon im Mai 2009, als er zur Bundesbank wechselte, nahm er ein unfertiges Buchmanuskript mit dem Arbeitstitel Wir essen unser Saatgut auf mit in den neuen Job. Es ging darin um Fragen der Demographie, der Intelligenz, der Bildung, des Sozialstaats und der Migration in langfristiger Perspektive und in ihrem vernetzten Zusammenwirken auf die künftige Entwicklung Deutschlands. Dann sagt er, nicht ohne einen schon etwas verächtlichen Gesichtsausdruck, dass diese vernetzte Betrachtungsweise später wohl alle jene überfordert habe, die gerne mit linearen Gewissheiten leben.
Er blickt weiter auf das Jahr 2009 zurück und kommt auf das Interview in Lettre International zu sprechen. Ich frage nach. Und
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