Neukölln ist überall (German Edition)
nicht besonders schlau aus der Wäsche geschaut haben. Denn er legt nach: Der Kern der Probleme habe nichts mit Geld zu tun. Es war wohl doch etwas naiv von mir zu glauben, dass Thilo Sarrazin eventuell zugeben könnte, dass er damals aus Unkenntnis zu kurzsichtig geurteilt hat und er mit seinem Wissen von heute natürlich mehr Geld für die vorschulische Erziehung bewilligen würde. Dass Thilo Sarrazin zugibt, dass er irgendwann einmal nicht recht gehabt hätte, liegt sicherlich jenseits seiner Vorstellungskraft.
Egal, welche Ursachen sie hat: Für mich ist die Bildungsferne der Ursprung aller gesellschaftlichen Verwerfungen. Ich frage Thilo Sarrazin nach seinen Lösungsansätzen.
Er sagt, Bildungsferne wurzele in der mentalen Verfasstheit in großen Teilen unserer wachsenden Unterschicht. Sie müsse bei den Kindern bekämpft werden. Aber die wachsende Bildungsferne sei nur das Symptom, nicht die Ursache für das Anwachsen der Unterschicht. Dass die bildungsferne Unterschicht in Deutschland in absoluten Zahlen, aber auch als Anteil an der Bevölkerung so stark zugenommen habe, sei eine Folge falscher Einwanderung und falscher familienpolitischer Anreize unseres Sozialstaats. Daraus ergibt sich seine erste Kernthese, dass der weitere Zuzug nur noch auf qualifizierte Einwanderer beschränkt werden müsse. Als zweite These bezeichnet er den radikalen Stopp aller materiellen Anreize für überdurchschnittliche Geburtenraten in der Unterschicht.
Meinen Hinweis, dass wir gar keinen nennenswerten Zuzug, sondern eher ein Negativsaldo bei der Wanderung haben, wischt er vom Tisch. Er verweist auf die illegale Einwanderung muslimischer Migranten aus Afrika nach Spanien und Italien: Deutschland werde über die viel zu durchlässigen Grenzen des Schengenraumes durchschnittlich rund 100 000 Zuwanderer jährlich aus dem Nahen Osten und Afrika haben. Er findet es schlimm, dass wir bildungsfernen muslimischen Migranten hier ein warmes Plätzchen bieten, was sie bei sich zu Hause nicht hätten. »Wir ziehen so eine negative Auslese an und verstärken diese noch, wenn die Besten uns verlassen, die Übrigen aber bleiben und weiterhin große Familien auf Kosten des deutschen Sozialstaats haben. Dort liegt das Problem.« Das heißt für ihn, die bisherigen falschen Anreize streichen und an ihre Stelle die richtigen setzen. Er konkretisiert diese Forderung, indem er sagt, Einwanderer sollten für eine längere Übergangszeit keinen Anspruch auf deutsche Transferleistungen haben, und Geldleistungen für Kinder sollten diesen indirekt über das Bildungssystem zugute kommen.
Mit meinen Einwänden bin ich an dieser Stelle also nicht richtig durchgedrungen. Ich versuche es mit einem anderen Ansatz. Wenn wir das soziale Netz so einschränken, wie er vorschlägt, dann muss uns klar sein, dass wir auch den sozialen Frieden gefährden, der unter anderem durch das Sozialsystem garantiert wird. Unterschichten ohne materielle Lebensgrundlage bedeuten zwangsläufig eine immer mehr verarmende Bevölkerung. Reaktionen wie in den französischen Banlieues nach dem Motto »Was ich nicht kaufen kann, hole ich mir« oder das Entstehen einer von der Bevölkerung anerkannten organisierten Kriminalität wie zum Beispiel der Gegenstaat der Camorra in Italien. Auf diesen Einwand hin passiert etwas Erstaunliches. Thilo Sarrazin räumt ein, dass er für diesen Punkt noch keine Lösung hat. Er denke oft darüber nach. Aber als Ausweg für sich sieht er die Erklärung, dass man nicht die Bekämpfung der Ursachen gegen die Bekämpfung der Folgen ausspielen könne. Und deshalb bleibt er dabei, dass bei der Integration zuerst bei den Ursachen der Probleme anzusetzen sei. Für ihn sind dies: der Zuzug, der Sozialstaat und die Manifestierung radikaler Elemente.
Wir widmen noch einen großen Teil unseres Gesprächs der Bildungspolitik. Bei diesem Thema wird Thilo Sarrazin ausgesprochen leidenschaftlich. Gerade im Berliner Bildungswesen macht er die Folgen und »das unsägliche Erbe der 68er-Generation und des Westberliner Schlampfaktors« aus. Er berichtet von der Leistungsunfähigkeit des Berliner Bildungssystems und ist auch da mit geharnischten Formulierungen nicht kleinlich. Bei Leistungstests werde geschummelt, weil die Lehrer, die unterrichten, auch die Tests bewerten. Da Lehrer nicht daran gemessen werden, was die Kinder wissen und welche Leistungen sie erbringen, sondern daran, welchen Notenspiegel sie erreichen, ist für ihn das Ergebnis klar. Dass
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