Neukölln ist überall (German Edition)
Vietnamesen, Russen, Indern und Polen im Vergleich zu muslimischen Einwanderern aus Südosteuropa, Nordafrika, Nah- und Mittelost. Er plädiert dafür, dass alle finanziellen Anreize abgeschafft werden müssen, die im Ergebnis dazu führen, dass die bildungsfernen Schichten sich stärker fortpflanzen als die bildungsorientierten. Als Vergleich zieht er die bekannte Veränderung der Geburtenrate der Welfare-Mothers in den USA an, die nach dem Fortfall der lebenslangen Alimentation massiv zurückging. Nachdem die Sozialleistungen in den USA auf fünf Jahre beschränkt wurden, verstärkte sich die Verhütungsbereitschaft mit gleichzeitigem Rückgang der Geburtenrate.
Bei uns haben akademische Frauen eine Geburtenrate von 1,0, in den USA 1,7 bis 1,8. Das ist für Thilo Sarrazin der Ausgangspunkt, an dem staatliche Förderung ansetzen muss. Er will das System ändern. Solange es so ist, dass unsere Gesellschaft jedes Kind erwerbsloser oder geringverdienender Eltern mit, alles zusammengerechnet, monatlich 320 Euro fördert, nur solange funktioniere eben auch das Modell der arabischen Großfamilie in Neukölln, sagt er. Er hält das »einkommensunabhängige Kindergeld, was übrigens eine Erfindung der Nazis ist, für eine grundsätzliche Fehlentwicklung«. Für ihn ist das französische System klüger. Dort können gut verdienende Franzosen durch viele Kinder viele Steuern sparen. Kinder sind in Frankreich das Steuersparmodell für die Reichen, sagt er. Deswegen gebe es dort mehr Kinder, und er findet es vernünftig, dass die, die wirtschaftlich leistungsfähig sind, sich für mehr Kinder entscheiden.
Natürlich unterhalten wir uns auch über sein Steckenpferd. Die genetischen Grundlagen des Menschwerdens, seine Thesen zur Vererbung von Intelligenz und die daraus für ihn zwingenden Ableitungen der Auswirkungen auf die Demographie. Thilo Sarrazin beharrt auf seiner bekannten Feststellung, dass er den Stand der Wissenschaft wiedergegeben habe und wiedergebe, und dass diejenigen, die sich mit dieser Thematik nicht beschäftigen wollen, dies aus Bequemlichkeit tun. Bei flapsigen Formulierungen meinerseits zu diesem Thema bekomme ich noch einmal eingetrichtert, dass die Erblichkeit von Intelligenz und die unterschiedlichen Bildungsleistungen von Einwanderern je nach ethnischer und kultureller Herkunft heterogen zu betrachten seien. Da seien auch viele Kritiker an seinem Buch an ihre Grenzen gestoßen, hätten die Dinge vermengt und dann aus diesem Brei die Behauptung konstruiert, er hätte Muslime für genetisch dümmer erklärt. Was er nach seiner Überzeugung an keiner Stelle getan hat.
Der Grad der Intelligenz sei zwar nicht genetisch bedingt, aber sehr wohl mit der kulturellen Herkunft verknüpft, meint er, und verweist darauf, dass die Kinder von Migranten aus Fernost weltweit die besten Pisa-Ergebnisse erzielen und die Kinder von Migranten aus islamischen Ländern die schlechtesten. Zwischen Einwandererkindern aus Pakistan und aus Indien liege im Pisa-Test in Mathematik ein Unterschied von mehr als vier Schuljahren. Länder, die überwiegend Einwanderer aus Fernost hätten, würden durch diese Einwanderung ihre durchschnittliche Bildungsleistung erhöhen. Das gelte zum Beispiel für die USA , Kanada oder Australien. Länder, deren Einwanderer vorwiegend aus der Türkei, Afrika und Nah- und Mittelost kommen, müssten durch diese Einwanderung eine Absenkung der durchschnittlichen Bildungsleistung hinnehmen. Dies gelte zum Beispiel für Deutschland, Österreich und die Schweiz.
An dieser Stelle war der Kaffee alle. Obwohl sich der Kater inzwischen an mich gewöhnt hatte, beendeten wir unser Gespräch.
Auf dem Weg zurück ins Rathaus sortierte ich meine Gedanken. Hat Thilo Sarrazin nun die Erleuchtung gebracht und endlich ausgesprochen, was viele denken? Oder ist er doch der Demagoge, ja fast ein Volksverhetzer, für den ihn die anderen halten? Ich vermag die Frage an dieser Stelle nicht zu beantworten. Jeder muss selbst sein Verhältnis zu Thilo Sarrazin finden. Man kann, ja, ich finde, man muss sich an ihm reiben. Er liebt es, Widerspruch zu erzeugen, aber er liebt den Widerspruch nicht. Er ist sicher egozentrisch. Ein bisschen selbstherrlich verliebt in die eigene, nicht zur Disposition stehende Intelligenz und die daraus resultierende Erkenntniswelt ist er nach meinem Empfinden schon. Ein Neonazi und Volksverhetzer ist er aber nicht. Man mag ihn als unbequem und als Zumutung empfinden, ihn zum Teufel wünschen, weil
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