Neukölln ist überall (German Edition)
man seine Thesen nicht teilt, und man kann – wie geschehen – dem streitbaren Dialog mit ihm ausweichen. Das ist bequem, aber feige. Wenn wir eine freie, liberale und pluralistische Gesellschaft sein wollen, dann müssen wir auch schmerzliche Prozesse zulassen und durchstehen. Denn erst daran zeigen wir die Belastbarkeit hochtrabender Worthülsen. Diese Worte richte ich gerade an die, die immer glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen und die Wahrheit gepachtet zu haben. Ich respektiere Thilo Sarrazin, auch wenn ich nicht alles an ihm und von ihm mag.
Der »schlaue Det« hat mir ein bisschen die große, weite Welt erklärt. Trotzdem sitze ich im Auto und finde auf die Frage, ob ich nun für meinen Job in Neukölln besser gerüstet bin als vorher, keine schlüssige Antwort. Für heute verabschiede ich mich von der Metaebene und den globalen Philosophien und kümmere mich wieder darum, dass in Neukölln Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen und sie zu der Erkenntnis gelangen, dass es ein Leben außerhalb von Hartz IV gibt.
Und wie machen es andere?
»Neukölln ist der Blick in die Zukunft vieler Städte in Europa und der ganzen Welt, die von Migration geprägt sein werden.« So lautete das Urteil des Europaratexperten und Ideenstifters des Intercultural-Cities-Projektes der EU -Kommission und des Europarates, Phil Wood, nach seiner Visite im Jahre 2008. Nach seiner 3-tägigen Inspektion stand für ihn fest, dass Neukölln als einzige deutsche Kommune Pilotpartner des Projektes sein soll. Ziel dieses Programms war es, ein Netzwerk aus Städten aufzubauen, die alle einen hohen Migrantenanteil in ihrer Bevölkerung haben. Durch den Austausch ihrer Erfahrungen sollten die Stadtverwaltungen voneinander lernen. Die Namen der Partnerstädte klangen verheißungsvoll – Lyon, London-Greenwich, Reggio Emilia, Neuchâtel, Lublin, Patras, Melitopol, Oslo, Tilburg, Straßburg, Ischewsk –, und so waren wir auch stolz auf die Berufung in diesen Kreis und gespannt auf die Dinge, die uns dort begegnen würden.
Der Kreis hat sich seit der Startphase des Projektes auf 37 Städte in 29 Ländern erweitert. Neukölln ist nur noch verhalten und am Rande involviert. Selbstverständlich werden wir unserer Rolle als Gastgeber für Ausflüge in die deutsche Hauptstadt nach wie vor gerecht und nehmen auch mit Vertretern des Bezirks an ausgewählten Konferenzen der Netzwerkstädte teil.
Wir merkten schnell, dass unsere Erwartungshaltung und die Ziele des Projektes zwar über Schnittmengen verfügten, aber nicht deckungsgleich waren. Das Projekt sah sich insgesamt dem Gedanken verpflichtet, die kulturelle Diversität als Katalysator der interkulturellen Integration zu nutzen. Hierfür war man auf der Suche nach guten Projekten und Praktiken in den einzelnen Städten. An der Lösung von sozialen Verwerfungen und der Überwindung von Bildungsferne wie der Eindämmung von Kriminalität, um daraus Integrationserfolge zu schöpfen, war man eher zurückhaltend interessiert. Und das ist noch eine sehr höfliche Umschreibung. Hin und wieder brachen die unterschiedlichen Sichtweisen deutlich sichtbar auf und vermittelten uns sehr klar die Erkenntnis, dass unser Ansatz, Lösungsstrategien für komplexe Probleme zu entwickeln, ziemlich verpönt war.
Es war schon ein sehr heftiges Ringen, die zehn Grundsätze der Integrationspolitik in Neukölln unverändert auf der Homepage des Europarates zu platzieren. Sein nicht enden wollendes Insistieren, unsere fordernden und stringenten Formulierungen aufzuhübschen und zu verniedlichen, war recht ermüdend. Letztlich haben wir uns durchgesetzt, und der unveränderte Text ist heute noch im Internetauftritt des Projektes zu finden. **
Insgesamt muss ich zugeben: Wir haben es diesem Schönwetterprojekt nicht leicht gemacht. Bei Diskussionen und Workshops drängten wir immer wieder darauf, dass die Phänomene Multikulti, Parallelgesellschaften, Kriminalität, Armutsmigration auf die Tagesordnung kamen. Wir mussten dann aber einsehen, dass diese Themen zwar formal abgewickelt wurden, aber kein Interesse an einer wirklichen Vertiefung und Aufarbeitung bestand. Interessant war in diesem Zusammenhang, dass in den direkten Kontakten mit den Vertretern der einzelnen Städte die Sichtweisen doch den unseren erheblich näher waren als denen des Projektes. Die anderen Städte hatten die gleichen Probleme und waren an einem Meinungsaustausch stark interessiert. Neuköllner Teilnehmer waren bei Veranstaltungen
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