Neukölln ist überall (German Edition)
absolut gesehen zweifellos ein Rückgang, denn im Jahr 2008 waren es 3600 Taten. Allerdings darf man sich nicht an seligen Friedenszeiten von 1990 mit 1600 Delikten orientieren. Dann handelt es sich doch wieder um eine Steigerung. Das heißt, trotz rückläufiger Tendenz ist die Kriminalität immer noch deutlich höher als vor 20 Jahren.
Beim Täter-Opfer-Schema sind sich alle meine Gesprächspartner einig. In die erste Opferkategorie fallen deutsche Jugendliche, an zweiter Stelle kommt die deutsche alte Frau, und den dritten Rang nehmen alle ein, die den Eindruck der Schwäche vermitteln oder die in irgendeine (nervende) Beziehung zum Täter getreten sind. Letzteres sind bereits Aufforderungen zum Fahrscheinlösen oder zur Einhaltung des Rauchverbots im ÖPNV . Die Fachleute berichten, dass sich in jüngster Zeit anscheinend ein Opfermangel entwickelt. Es gibt in den Brennpunkten und an ihren Rändern nicht mehr genug junge Deutsche. Dadurch werden jetzt vermehrt Straftaten zwischen den Einwandererethnien registriert. Also Araber gegen Türken, Araber und Türken gegen Russen oder Bulgaren und Rumänen. Je nachdem, was gerade im Angebot ist. Manchmal mischen sich die Gruppen auch. Das hört sich zynisch an, beschreibt aber einfach nur die Realität.
Erinnert sei daran, dass ich an dieser Stelle nicht über alle jungen Leute schreibe. Noch nicht einmal über alle jugendlichen Straftäter. Für die meisten von ihnen bleibt die Kriminalitätserfahrung eine Episode in ihrem Leben. Junge Männer testen Grenzen aus, suchen den Kick, wollen der Coolste der Straße sein oder nur einfach einmal ausprobieren, was passiert. Etwa 80 % bis 85 % aller Erst- und Zweittäter erscheinen nie wieder vor Gericht. Auch sind die Verfehlungen eher untergeordneter Bedeutung. Meist geht es um Schwarzfahren, Laden- und Mopeddiebstahl, Fahren ohne Führerschein bis hin zur zünftigen Schlägerei, also Körperverletzung. Bei Jugendlichen, die wegen »Körperverletzung in Mittäterschaft« zu einer Jugendstrafe verurteilt werden, liegt die Rückfallquote übrigens nur bei rund 30 %. Bei Intensivtätern zwischen 50 % und 70 %. Aber selbst der letztere Wert bedeutet, dass fast jeder dritte Intensivtäter noch einzufangen ist. Ich glaube, dass bei einer anderen Haltung der Justiz die Rückfallquote noch erheblich gesenkt werden könnte.
Die Stammkundschaft und die Täter mit den schwerwiegenden Gewalttaten, das sind die, die ich in diesem Abschnitt meine. Diese Täter sind es auch, die mit ihren Taten in den Gazetten erscheinen und die immer wieder öffentliche Diskussionen unter der Überschrift »Immer jünger und immer brutaler!« auslösen. Das trifft für Marokkaner in den Niederlanden, Algerier in Frankreich, Pakistani oder Schwarzafrikaner in London genauso zu wie für türkisch- und arabischstämmige Jugendliche bei uns. Gewaltbereitschaft ist keine ethnische Spezialität. Allerdings zeigen alle Untersuchungen auch in anderen Ländern, dass Komponenten wie eigene Gewalterfahrung und religiöses Egodoping stark begünstigende Faktoren sind. Den Risikofaktor »jung, männlich, Migrant« zum Abgleiten in die Kriminalität habe ich bereits erwähnt. Eine frühere Berliner Justizsenatorin fügte im Jahr 2010 folgende Ergänzung hinzu: »Der typische Serientäter ist männlich, arabischer Herkunft und bleibt auch als Erwachsener kriminell.« Dieses Erklärungsmuster führt natürlich sofort zu der Diskussion, ob die Gewaltbereitschaft junger Muslime durch ihre Religion bedingt ist oder nicht.
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen ( KFN ) hat hierzu einmal eine Studie mit dem Ergebnis vorgestellt, dass junge kaum religiöse Migranten zu über 40 % das Abitur ansteuern, zu über 60 % deutsche Freunde haben und sich zu zwei Dritteln auch als Deutsche fühlen. Junge gläubige Muslime hingegen streben nur zu 16 % das Abitur an, haben zu 28 % deutsche Freunde und fühlen sich lediglich zu 22 % als Deutsche. Diese Unterschiede sind schon beachtlich, obgleich ich auch an dieser Stelle erneut darauf hinweisen möchte, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Studien oder Forschungsarbeiten gibt, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen. Zu bedenken gebe ich aber, dass der hinter dem KFN stehende Wissenschaftler für Kriminalitätsforschungen Prof. Pfeiffer schlechthin als der »Papst« auf diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum gilt. Aus diesem Grund ist dem Wahrheitsgehalt seiner
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