Neukölln ist überall (German Edition)
erzieherische Wirkung seines Urteils in den Vordergrund stellen. So entwickelt jede Profession ihre eigenen Ansichten zu dem gemeinsam zu bekämpfenden Grundübel.
Ich teile die Auffassung, dass unser gesetzlicher Werkzeugkasten zur Kriminalitätsbekämpfung völlig ausreicht. Allerdings nur dann, wenn wir ihn auch benutzen und die gegebenen Möglichkeiten ausschöpfen. An dieser Stelle komme ich ins Grübeln. Nach den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes wurden zum Beispiel im Jahr 2006 von 100 000 jungen Straftätern in Deutschland nur 91 zu Jugendstrafen zwischen fünf und zehn Jahren verurteilt. 16 000 Mal wurden überhaupt Jugendstrafen verhängt, davon 10 000 zur Bewährung ausgesetzt. Vergleicht man diese Zahlen mit der Zahl der veröffentlichten schweren Gewalttaten gegen Leib und Leben, vermittelt dies schon einen ersten Anschein von einem sehr verständnisvollen Umgang mit jungen Straftätern.
Ich erinnere mich gut an die leidenschaftliche Debatte vor einigen Jahren in Deutschland, ob Straftäter zwischen 18 und 21 Jahren (also Heranwachsende) regelmäßig nach dem Erwachsenenstrafrecht behandelt werden sollten oder nach dem Jugendstrafrecht. Ein ehemaliger Ministerpräsident von Hessen hatte damit seinen Wahlkampf geführt. Er forderte mehr Härte und eine regelmäßige Aburteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht. Nun war es aber gerade in Hessen so, dass 75 % der Täter dieser Altersstufe nach dem Jugendstrafrecht behandelt wurden. Wer mit einem Finger auf andere zeigt, übersieht mitunter, dass drei Finger auf ihn selbst gerichtet sind. Die Kampagne floppte damals zu Recht. Man darf aber nicht die Augen davor verschließen, dass es Jugendrichter gibt, nach deren Auffassung alleine schon die Tat der Beweis dafür ist, dass die Täter noch nicht über die Reife eines Erwachsenen verfügen. Hätten sie die Reife, hätten sie die Tat nicht begangen – nach dieser Logik wäre dann ausnahmslos das Jugendstrafrecht anzuwenden.
Wenn ich mir das Kaleidoskop der Gewalttaten in jüngster Vergangenheit in Berlin und speziell in Neukölln anschaue, erscheint es aber auch mir so, dass die Taten immer brutaler werden, die Täter immer mehr verrohen, unsere Justiz jedoch immer zögerlicher agiert. Der frühere Berliner Innensenator Körting sorgte vor einigen Jahren für einen Skandal, als er öffentlich erklärte, dass »Allesversteher« unter den Richtern mitverantwortlich für die Gewaltmisere seien. Es gehe ihnen nur um die Psyche des Täters, die Opferpsyche sei »etlichen Richtern scheißegal«. Jeder, der die Empfindlichkeit von Richtern kennt, kann sich vorstellen, zu welchem Aufruhr es damals gekommen ist. Richter darf man eben nicht kritisieren. Für sie gilt die Leistungsbandbreite des Menschen im Allgemeinen nicht. Vor Gerichtsurteilen ist nach der Meinung eines Standesvertreters durchaus Demut angezeigt. Da sind Bezirksbürgermeister menschlicher und kritikfähiger.
Besonders in den Fällen, in denen absehbar ist, dass sich gerade eine kriminelle Karriere aufbaut, muss bereits im Anfangsstadium versucht werden, Denkprozesse beim Straftäter auszulösen. Aus meiner Sicht ist hier Über-den-Kopf-Streicheln nicht die richtige Methode. Der junge Mensch muss durch eine energische Reaktion des Staates bzw. der Gesellschaft merken, dass er irgendetwas falsch macht. Ich erinnere an dieser Stelle an meine gute alte Bekannte, die Jugendrichterin Kirsten Heisig. Sie sagte immer, »schnell muss es gehen, und konsequent muss es sein«. Ausgestiegene Gewalttäter erklären rückblickend immer wieder, dass ihnen der Ausstieg aus der Kriminalität schon sehr viel früher gelungen wäre, wenn man ihnen rechtzeitig das Stoppschild gezeigt hätte. Auf der verbalen Ebene gibt es hierzu auch in der Politik eigentlich wenig Dissens. Selbst die GRÜNEN finden in diesem Zusammenhang klare Worte. Ein früherer Fraktionschef sagte einmal, wir dürften nicht zulassen, dass Jugendkriminalität und Gewalt in der nächsten Generation so weiter gehen. Gegenüber manchen Jugendlichen müsse auch Härte gezeigt werden.
Wir stehen in Berlin an einer Schwelle, an der man handeln muss. Im Grunde genommen geht es um die Frage, bis zu welchem Punkt wir dem Primat des Erziehens und Lenkens im Jugendstrafrecht folgen, bevor wir das Schwergewicht auf den Sanktionsgedanken des Strafens und der Abschreckung legen. Wir wissen heute aus vielen Fällen, dass an bestimmten Tätern pädagogische Maßnahmen komplett
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