Neukölln ist überall (German Edition)
Veröffentlichung, die auf der Basis von 45 000 Befragungen von Schülerinnen und Schülern der 9. Klassen in 61 Städten beruht, schon ein recht hoher Grad zuzubilligen. Selbst der GRÜNEN-Chef Cem Özdemir stufte die Studie als realistisch ein.
Ein signifikantes Merkmal von Gewalttätern ist sicher, dass mit abnehmendem Bildungsgrad auch die Fähigkeit zur gewaltlosen Konfliktlösung schwindet. Also: Je geringer die geistigen Kompetenzen, desto dicker die Muskeln. Zwei Drittel aller jungen Häftlinge haben keinen Schulabschluss und 90 % keine Berufsausbildung. Das bestätigt die These. In Berlin ist der Zusammenhang sogar noch deutlicher, hier haben 80 % keinen Schulabschluss, und bei einem Drittel der späteren Intensivtäter enthalten bereits die Schulakten Hinweise auf schwieriges und/oder aggressives Sozialverhalten, Sitzenbleiben und Schulschwänzen.
Dort, wo man ein Bildungssystem nicht kennt, nie selbst eine Schule besucht hat, gilt die Schulpflicht als eine Art unverbindliche Empfehlung. Wer von frühester Kindheit an Gewalt erlebt und spürt, für den ist Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Ansprüche.
Die Leiterin einer Neuköllner Schule erklärt das verhängnisvolle Erbe der Gewaltbereitschaft so:
»Obwohl es uns gelungen ist, eine weitgehend gewaltfreie, angenehme Schulatmosphäre herzustellen, kommt es dennoch manchmal auch zu Konflikten, die den Schulfrieden nachhaltig stören können. Der Grund hierfür ist, dass sich Familienmitglieder zum Beispiel arabischer Großfamilien in die inneren Angelegenheiten der Schule einmischen. Dabei wird deutlich, dass sie die Autorität der Institution Schule nicht anerkennen und die Idee vorherrscht, dass Recht und Ehre ihrer Kinder nur wiederhergestellt werden können, indem sich Väter, Onkel, Cousins in und vor der Schule versammeln und massiven Druck auf die Entscheidungen der Schule auszuüben versuchen. Diese Situationen können bisweilen nur durch Mitwirkung der Polizei gelöst werden.
Eine Schule, in der solche Vorkommnisse auftreten, hat es schwerer, soziale und sprachliche Heterogenität zu stärken, da Eltern Angst um ihre Kinder haben.
Die mangelnde Anerkennung staatlicher Institutionen durch eine Minderheit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das Schule nicht allein lösen kann. Dazu braucht es die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, der Polizei und zum Beispiel den arabischen Vereinen.
Mehrheitlich kommen unsere Schüler/innen aus Familien mit patriarchalischen und hierarchischen Strukturen. Der vorherrschende Erziehungsstil ist autoritär, was die Schüler/innen als Stärke erleben. Daraus erwächst für eine Schule, deren erklärtes Ziel selbständiges, eigenverantwortliches Lernen und Teilhabe an Schulentwicklungsprozessen ist, eine doppelte Schwierigkeit. Zum einen interpretieren die Schüler/innen einen aushandelnden Erziehungsstil als Schwäche. Als schwach wahrgenommene Pädagogen/innen können Schüler/innen aber nur bedingt zum Lernen motivieren. Und zum anderen hält dieser autoritäre Erziehungsstil die Kinder bis hinein ins frühe Erwachsenenalter in der Unselbständigkeit. Da sie im familiären Bereich anders geprägt wurden, fehlen ihnen das Verständnis für die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens sowie wichtige Fähigkeiten wie Problematisieren und kontrovers Diskutieren. Und so spiegelt sich dieses Unverständnis in ihrer Ablehnung gegenüber einem Unterricht wider, der Selbständigkeit und Eigenverantwortung verlangt.
Aus unserer Erfahrung heraus wäre ein Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis wichtig, um Wege zu finden, die helfen, dieses Dilemma zu überwinden.«
Wie bereits erwähnt, entstammen nach Einschätzung des Türkischen Bundes bis zu 80 % der bei uns lebenden türkischstämmigen Bevölkerung der Unterschicht in der Türkei. Erfahrungsgemäß wird in dieser Gesellschaftsschicht Gewalt erheblich weniger in Frage gestellt als in bildungsorientierten Familien. Nach Erkenntnissen des KFN wird in Einwandererfamilien etwa drei- bis viermal häufiger Gewalt ausgeübt als in deutschen Familien.
Ein Einschub ist wichtig an dieser Stelle. Wenn junge Menschen aus der Spur geraten sind und die kriminelle Szene als völlig normale Lebensform für sich entdeckt haben, dann gibt es unter den Entwurzelten keinen Unterschied mehr. Ein russischer Intensivtäter unterscheidet sich in nichts von einem türkischen, arabischen oder deutschen. Der eine trägt Kurzhaarschnitt und Springerstiefel und ist
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