Neukölln ist überall (German Edition)
Lebensregeln und spezifischer Normalität. Das Leben ist gemeinhin rustikaler und unterscheidet sich von dem des Bildungsbürgertums diametral. Es orientiert sich eher an mangelnden Ressourcen als an der Idylle von Porzellanfiguren und Zierrasen. Es fehlen häufig sowohl eigene Kompetenzen, die für ein erfolgreiches Erwerbsleben, zum Erlernen der Landessprache und zur Konfliktbewältigung erforderlich wären, als auch die materiellen Voraussetzungen dafür, sich sämtliche Wünsche erfüllen zu können. All dies führt zur Ausgrenzung jener Stadtlagen, zu ihrer Abtrennung von der allgemeinen Entwicklung. Die Gesetze des Arbeitsmarktes funktionieren nur bedingt, Schwankungen im Wirtschaftsgefüge kommen gar nicht oder nur vermindert an. So ist zum Beispiel die Zahl der Hartz- IV -Empfänger in Neukölln, wie erwähnt, über die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs oder der Rezession nahezu konstant. »Gebiet mit Ausgrenzungstendenz« nannte uns deshalb auch der Stadtsoziologe Prof. Häussermann. Es entstehen asymmetrische Stadtteile. Sie driften auseinander. Subjektiv empfinden sich die Bewohner in den Einwanderergebieten, die sich irgendwann zu sozialen Brennpunkten entwickelt haben, als benachteiligt, diskriminiert und ausgeschlossen. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Kriminalität: Ich nehme mir, was mir zusteht, aber vorenthalten wird, weil ich Ausländer bin. In der Sprache der Gesellschaft nennt man das Einbruch, Diebstahl, Überfall oder Raub.
Dass zu jeder kriminellen Tat auch ein oder mehrere Täter gehören, ist zwangsläufig. Übersehen wird aber häufig, insbesondere von der Justiz, dass es auch dazugehörige Opfer gibt. Von Opfern weiß man, dass sie gemeinhin zu ihren Peinigern ein eher gebrochenes Verhältnis entwickeln. Das bedeutet, jede kriminelle Tat errichtet eine kleine Mauer. Handelt es sich beim Täter um einen Einwanderer oder eine Einwanderin, einen Migranten oder eine Migrantin, einen Ausländer oder Ausländerin, so überträgt das Opfer diesen Status auf seine Leiden. Dies führt dann zwangsläufig dazu, dass der Täter fast immer ethnisiert wird. Es war der Russe, der mich überfallen, der Araber, der mich geschlagen, und der Türke, der auf mich eingestochen hat. Das ist Gift für die Integration. Insofern wird Kriminalität zu einem erheblichen Hemmschuh. Wer einmal schlechte Erfahrungen gemacht hat, verspürt wenig Lust auf eine Wiederholung.
Ich habe das traditionelle Klischee »Ausländer sind krimineller als Einheimische« als gesetzt übernommen. Aber stimmt das denn wirklich? Über die Frage des kriminellen Geschehens in Neukölln und in Berlin habe ich den Erfahrungsschatz von Menschen angezapft, die Kraft ihres Berufes sehr viel näher am Geschehen sind als ich. Die mir vermittelte Sichtweise kann keine objektive sein, denn es handelt sich zumeist um die Klagen aus der Bevölkerung, also der potentiellen oder auch tatsächlichen Opfer.
Es gibt das Schlagwort der »gefühlten Kriminalität«. Das heißt, Berichte von Dritten, aus den Medien oder vom Hörensagen werden auf die eigene Lebenslage projiziert. Unabhängig davon, dass es mich nicht persönlich betroffen hat. Es reicht völlig aus, wenn das Gefühl der Bedrohung geweckt wird.
Allerdings gibt es durchaus auch das Phänomen der »gefühlten Sicherheit«. Der sichtbare Polizist an der Ecke und der regelmäßig durch die Straße fahrende Streifenwagen geben Sicherheit. Wo die Polizei zu sehen ist, kann mir nichts Böses passieren. Natürlich ist das ein Irrtum, aber ein netter.
Meine Gesprächspartner waren Polizeibeamte, Jugendgerichtshelfer und Jugendrichter. Also die Law-and-Order-Fraktion. Die Offenheit und der Realismus in der Betrachtung ihrer täglichen Arbeit erleichterte zwar die Gesprächsführung, machte mich aber trotzdem etwas betroffen. Wenn diese Menschen einmal die Jalousie hochziehen und sich in die Karten schauen lassen, wird man schnell desillusioniert. Da ist Schluss mit lustig. Von Multikulti, Volkstänzen und kultureller Bereicherung ist dann keine Rede mehr.
Das tägliche Erleben von Verwahrlosung, Rowdytum und Gewaltbereitschaft auf der Straße prägt einen Polizeibeamten anders als den Jugendgerichtshelfer. Der eine wird mit der Straftat und dem Opfer konfrontiert, der andere muss die Ursachen ergründen, verstehen und möglichst die Wiederholungsgefahr bannen. Der Richter wiederum muss entlastende und belastende Dinge abwägen. Und gerade bei der Jugendkriminalität die
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