Neukölln ist überall (German Edition)
abprallen. Ja, dass sie sogar eher amüsieren. Das ermahnende Wort des Richters wird zum »Gelaber«, die auferlegten Arbeitsstunden zum »krassen Schwachsinn«, den man häufig ignoriert, die Schulweisung verlacht und die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe als ein verkappter Freispruch aufgefasst.
Dort, wo der erste Gefängnisaufenthalt der eigentliche Eintritt in die Erwachsenenwelt ist, dort haben erzieherische und pädagogische Ansätze kaum eine Chance. Kirsten Heisig berichtete mir einmal von einem jungen Täter, den sie zur Jugendstrafe, also zum Knast, verurteilt hatte. Er schien ihr davon völlig unberührt, und sie fragte ihn danach. Seine Antwort lautete: »Knast macht Männer, sagt Mama.« Man mag über diesen Blödsinn lachen, aber das Problem ist bitterernst. In nicht wenigen unserer bekannten Sorgenfamilien bedeutet »einfahren« den Aufstieg zum vollwertigen Mitglied der Familie. Zum Strafantritt wird man mit einer Feier zu Hause verabschiedet und nach Verbüßung mit einer Feier wieder empfangen.
Nach einem Höchststand im Jahr 2009 konnten wir im Juni 2012 immer noch 192 jugendliche Serienstraftäter unser Eigen nennen. Zur Erinnerung, hierbei handelt es sich um Intensivstraftäter mit mehr als zehn Straftaten im Jahr, Schwellentäter mit fünf bis neun Straftaten und kiezorientierte Mehrfachtäter, die auf dem besten Weg sind, in den Täteradel der Schwellen- und Intensivtäter aufzusteigen.
Nun sind 192 junge Menschen von 65 000 Einwohnern unter 21 Jahren weniger als ein halbes Prozent. Eigentlich mengenmäßig bedeutungslos. Bedenkt man, dass die Hälfte immer gerade sitzt, halbiert sich die Zahl auch noch. Gleichwohl reichen 100 völlig skrupellose Gewalttäter aus, um ganze Gegenden zu terrorisieren und in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie belagern Schulwege und fordern Wegezoll, Benutzungsgebühren für den Spiel- oder Bolzplatz, stehlen Jacken, Turnschuhe, Handys – »abziehen« nennt man das – oder erzwingen mit Gewalt blödsinnigste Unterwerfungs- und Demutshandlungen. Und sie sind ständig auf der Suche nach Opfern. Wer keine Kinder hat, bekommt von solchen Vorgängen meist nur durch Zufall etwas mit. Die jungen Leute aber sind untereinander vernetzt, sie wissen, wo was in der Stadt los ist, und sie wissen, wer wo sein Unwesen treibt. Danach entscheiden sie auch, wo sie hingehen und welche Gegenden sie meiden. Das ist einer dieser Aspekte, der dazu führt, dass die jungen Menschen nicht zueinanderfinden, sondern sich voneinander entfernen. Unsere Polizei schätzt, dass in Problemgebieten wie Neukölln etwa 80 % der deutschen Jugendlichen zwischen 12 und 18 schon einmal Opfer einer Gewalttat geworden sind. Berichte von Eltern bestätigen diese Wahrnehmung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein junger Mensch bei uns Opfer einer Straftat wird, ist vierzigmal höher als für einen über 60-Jährigen.
Solche Aufteilung der Lebensräume in Gut und Böse bleibt nicht ohne Folgen. Ich bin teilweise richtig erschrocken darüber, wenn mir bei Diskussionen mit Oberschülern Stimmungslagen begegnen, die ich zwar nicht gleich als rassistisch bezeichnen möchte, die aber eine deutliche Trennung in »die« und »wir« erkennen lassen. Ein Beispiel. Als ich vor Jahren bei einer Schule anfragte, ob nicht Teile des Schulchores regelmäßig gegen eine kleine Aufmerksamkeit bei der Einbürgerungsveranstaltung das Stimmengerüst zum Singen der Nationalhymne abgeben möchten, erhielt ich eine Abfuhr: »Wir singen nicht für die, die uns auf der Straße verprügeln.« Das kann man für einen Ausreißer halten. Ich glaube das aber nicht.
Im Jahr 2006 drehte der Regisseur Detlef Buck den Film Knallhart . Die Geschichte eines Jungen, der aus einem gutbürgerlichen Viertel mit seiner Mutter nach Neukölln umziehen und hier infolge des Mobbings durch Straßenjugendliche und seine neuen Klassenkameraden ein Martyrium durchleiden muss. Die Handlung endet in einer Katastrophe. So weit der Film. Im Rahmen der Premierenfeier wurde die Filmklasse, die es in einer Neuköllner Schule wirklich gab, bei einem Interview gefragt, wie die Schüler die Gewalttaten im Film in ihrer dramaturgischen Übertreibung empfinden. Die Antwort war kurz und deutlich: »Wieso Übertreibung? Das richtige Leben ist bei uns noch viel härter.«
Die Zahl der Opfer dieser Möchtegern-Gangster ist nicht gering. Wir haben, wie erwähnt, in Neukölln im Jahr 2011 rund 2660 Straftaten jugendlicher Täter registriert. Das ist
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