Neuland
stimmt, du hast mir die schönsten Liebesbriefe geschrieben, die mir je jemand geschrieben hat, und plötzlich dachte ich, dass ich den Drang zu schreiben vielleicht überhaupt von dir habe und nicht von ihr, vielleicht will ich ja deinen geheimsten Wunsch verwirklichen, und jeden Brief hast du mit » ich glaube an dich, mein Mädchen « beendet, und dieses Jahr hast du Ejtan und mir die halbe Miete überwiesen,als ich auch nur angedeutet habe, dass wir knapp dran seien. Aber, Papa, wenn du zu Besuch gekommen wärst, hättest du auch erkannt, dass ich mir mit ihm nicht sicher bin, dass der verborgene Ankläger nicht aufhört, mir ins Ohr zu flüstern, aber du konntest ja nicht kommen, denn du hast eine andere Familie und ein neues Kind, das dich mehr braucht als ich, und überhaupt schiebst du immer noch eine Stinkwut auf alle, und ich verstehe es, Papa, ich verstehe, dass es leichter ist, wütend zu sein als traurig, aber unterm Strich hast du mich allein gelassen, und jetzt bin ich in meinem eigenen Leben gefangen, meine Erinnerungen sind die Gitter, und meine Schuld ist der Gefängniswärter, und ich weiß nicht, wie ich da rauskommen soll, vielleicht einfach immer weiterradeln, bis in alle Ewigkeit, wie in dem Lied von Sivan Shavit, noch eine prima Sängerin, die du kennen würdest, wenn du mit deinem Musikgeschmack nicht in den sechziger Jahren stecken geblieben wärst, einfach immer weiterradeln, hinaus aus diesem Park, der aussieht wie der ideale Platz, an dem man die Juden versammelt, bevor man sie in die Lager verschickt, und mit dem Vorderrad durch Sommerpfützen fahren, und weiter bis nach Wien, bis nach Paris und zu Ethan Hawke und überhaupt. Was meinst du, Papa?
*
Du warst wirklich im Produktionsteam für Engel im Himmel über Berlin ?, fragte Inbar Bruno auf dem Weg zum Flughafen. Die Antwort war ihr gar nicht so wichtig, sie wollte nur die angespannte Stille unterbrechen, die im Auto herrschte, seit sie losgefahren waren.
Heißt der Film bei euch in Israel so? Er warf ihr durch den Rückspiegel einen flüchtigen Blick zu.
Klar, heißt er auf Deutsch nicht …?
Der Himmel über Berlin im Original, Wings of desire auf Englisch.
Unser Titel ist der schönste, dachte Inbar, sagte es aber nicht.
Ja, ich war bei der Produktion dabei, und übrigens auch bei der Fortsetzung.
Eine Fortsetzung? Ich wusste nicht, dass es eine Fortsetzung gibt.
O doch, natürlich. Bruno richtete sich ein bisschen in seinem Sitz auf. Sie heißt In weiter Ferne, so nah! Aber du bist nicht die Einzige, die nichts davon gehört hat. Der Film war eine Pleite, im Vergleich zum ersten.
Na ja, Fortsetzungen sind immer ein Problem, besonders, wenn der erste Film so gut war.
Aber in diesem Fall war der zweite Film besser als der erste, für meinen Geschmack zumindest.
Der Wagen hielt an einer Ampel. Türkisch aussehende Männer arbeiteten mit Presslufthammern neben ihnen auf dem Gehweg. Ihre Mutter schwieg weiter. Inbar hätte gern die Hand ausgestreckt und ihre Schulter berührt, wagte es aber nicht.
Was war dann das Problem?, fragte sie. Solange sie redete, weinte sie wenigstens nicht.
Ich denke, dass … dass der zweite Film düsterer ist. Cassiel … der zweite Engel, erinnerst du dich, steigt hinab auf die Erde. Er wird Alkoholiker, landet im Knast und gerät in kriminelle Kreise. Das war ein … schwerer Film. Und die Leute haben es lieber, wenn die Kunst das Leben ein bisschen auspolstert.
Inbar nickte. Dieser Bruno schien doch nicht so ein Vollidiot zu sein. Typisch für sie, dass sie das erst auf dem Weg zum Flughafen merkte. Die ganzen Tage, die sie hier war, hatte sie sich nicht wirklich für ihn interessiert. Auch nicht für ihre Mutter. Sie hatte sie noch nicht einmal gefragt, wie es mit ihrem Doktorat ging oder mit dem Hebräischkurs, den sie seit Beginn des Jahres an der Uni gab. Und jetzt war es schon zu spät.
Ihr Blick glitt wieder zum Fenster. Merkwürdig, normalerweise wusste sie sehr schnell, ob sie eine Stadt mochte oder nicht. Haifa zum Beispiel – nicht. Tel Aviv – ja. New York – ja. Madrid – nicht. In Bezug auf Berlin hatte sie sich noch nicht entschieden, vielleicht, weil die Vergangenheit dieser Stadt ständig wie eine U-Bahn unterder Gegenwart brummte. Und vielleicht, weil sich die Stadt auch über sich selbst noch nicht ganz im Klaren war. Nicht mehr getrennt, aber noch nicht zusammen. Nicht mehr im Osten, aber noch nicht ganz im Westen angekommen. Eine Stadt, die vereint wurde, die jeden
Weitere Kostenlose Bücher