Neuland
geht, sagt ihm, dass das Schiff nach Peru fährt und zeigt auf seine Flagge.
Sogar im Dunkel der Nacht gelang es Lili, im Licht des Mondes die weiß-rote Flagge zu erkennen, die am Masten flatterte, und den Namen des Schiffes: Futuro .
Und nun bitte ich euch alle, sagte der Gruppenleiter, eure Pässe herauszuholen.
Lili hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Man hatte sie ja darauf vorbereitet, dass sie sich von ihrer bisherigen Staatsbürgerschaft verabschieden müssten, wenn sie in Erez Jisruel aufgenommen werden wollten. Solange ihr einen polnischen Pass habt, können sie euch nach Polen zurückschicken, hatte man ihnen erklärt.
Trotzdem weigerten sich die Hände, ihn abzugeben, und die Finger strichen über das Foto auf der ersten Seite: Ein junges Mädchen, das noch nichts von Gefahren weiß, lächelt in die Kamera. An einem Schabbat, mitten in Warschau: Der Wind hatte ihr eine Haarsträhne auf die Wange geweht, doch der Fotograf sagte, das sei jetzt modern, man müsse nicht noch ein Bild machen, und ihr Vater hatte sich gefreut, denn er wollte nicht mehr bezahlen, als er schon bezahlt hatte,
Ein paar Monate nachdem dieses Bild aufgenommen worden war, hatte sie Natan kennengelernt. Wie deutlich man einer Frau ansieht, ob sie schon mit einem Mann zusammen gewesen ist oder nicht, dachte Lili. Sie klappte ihren Pass zu und gab ihn unwillig dem jungen Mann, der zwischen den Kameraden hindurchlief und die Dokumente einsammelte.
Danach traten alle Einsammler ein paar Schritte nach vorne und warfen auf ein vereinbartes Zeichen die Pässe ins Hafenwasser. Man hörte das Aufklatschen von müdem Leder auf dem Wasser, und danach Stille. Keiner jubelte. Keiner brach in einen stürmischen Hora- Tanz aus. Keinem war danach zumute, und sie hatten auch keine Zeit. Die Gruppenleiter drängten sie, vielleicht, um keine Reue aufkommen zu lassen, sofort an Bord zu gehen. Jeder bekam einen Zettel mit der Nummer seiner Abteilung und seines Faches. Lili fand es schön, dass sie ein Fach haben würde, wo sie die Bücher, die sie mitgenommen hatte, hinstellen konnte, doch als sie in den Schiffsbauch hinabstiegen, wurde klar, dass die »Fächer« Kojen waren – dreistöckige Kojen füllten den ganzen Raum zwischen Boden und Decke des Schlafsaals. Lili legte ihre Taschen auf eines der unteren Betten und schaute sich um. Sie atmete die Luft ein, in der sich die Gerüche von geöffneten Reisetaschen mit denen von ausgezogenen Schuhen und Mützen, die von verschwitzten Köpfen abgenommen wurden, mischten –
Nichts wie weg hier, war ihr erster Impuls. Hinaufgehen, Ausbrechen. Sich retten. Doch die Anweisung lautete, im Bauch des Schiffes zu bleiben, bis es sich in sicherem Abstand zur Küste Rumäniens befand. Nur wer das Bewusstsein verlor, wurde nach oben an Deck gebracht, und Lili war noch nie eine gewesen, die in Ohnmacht fiel (bei ihrem vierten Treffen mit Natan, als sie anfing, sich zu sorgen, dass er auch diesmal nicht den Mut aufbringen würde, sie zu berühren, hatte sie beschlossen, etwas zu unternehmen, und in einem Park eine kurze Ohnmacht gemimt, indem sie sich an ihn lehnte und über plötzliche Schwäche klagte. Es funktionierte, und am Ende des Treffens bat er um die Erlaubnis, sie zu küssen. Später, nachdem sie genug geredet hatten, verriet er ihr, er habe gewusst, dass sie das nur gespielt habe, im Park. Ohnmächtig zu werden – das ist einfach nicht deine Art, hatte er lachend gesagt).
Erst viel später durften auch Leute, denen nicht die Sinne schwanden, hinauf an Deck. Die Schlange der Wartenden war lang und dicht gedrängt, und Lili beschloss, darauf zu verzichten. Eine leichte Seekrankheit rumorte in ihr, sie wollte sich lieber hinlegen. Doch dann kam Esther zu ihrer Koje und rüttelte sie sacht an der Schulter. Komm, sagte sie, ich möchte da oben nicht allein sein.
Die meisten illegalen Einwanderer versammelten sich am Bug des Schiffes. Dort standen auch die Klezmer, angeführt von Fima, und spielten eine kleine Nachtmusik. Großes Sprachgewirr. Jiddisch, Polnisch, aber auch andere, unbekannte Sprachen. Einige Leute tanzten zwischen den Leinen. Komm, sagte Esther und zog sie in die andere Richtung, diese Ausgelassenheit ist nichts für uns, und Lili folgte ihr. Nachdem Fima ihr im Zug heimlich Wasser angeboten hatte und sie es auch beinah … war es in jeder Hinsicht besser, Abstand zu halten.
Esther und sie stützten ihre Ellbogen auf die Reling und schauten in die Nacht. Die Lichter des
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