Neuland
schnell betrunken. Super!, sagte sie mit betont deutschem Akzent und bestellte gleich noch einen.
Von der Bar hatte sie einen Blick aufs Rollfeld, und sie bemerkte ein Flugzeug von Air Jamaica, das sich langsam die ganze Glasfront entlangbewegte. Das Flugzeug hatte fröhliche Farben. Ein total zugedröhntes Flugzeug. Look , sagte sie zum Barmann, an aeroplane of junkies! Doch der Barmann folgte verwundert ihrem Finger und kehrte zu seinen Angelegenheiten zurück. Wo waren die Barkeeper von früher, mit denen man noch reden konnte? Wenn dieser hier etwas aufmerksamer wäre, würde sie ihm erzählen … was würde sie ihm erzählen? Dass sie sich nicht sicher war, ob sie zurückfliegen wollte. Dass sie eigentlich in Israel gar nichts erwartete. Dass sie Angst hatte, nach ihrer Rückkehr aufgrund der Erdanziehungskraft wieder in einer Arbeit zu versinken, die sie nicht mehr machen konnte, ohne sich moralisch verdorben zu fühlen, und dass es in ihrer Wohnung nichts gab, worauf sie sich freute. Ich sehne mich nicht genug nach meinem Freund, würde sie zu dem Barmann sagen, und der würde verständnisvoll nicken. Und was würde dann passieren? Das Herz auszuschütten ist manchmal eben nicht mehr als das Herz ausschütten. Wo hatte sie diesen Satz gelesen? Ach so, sie hat ihn selbst geschrieben, in ihrem Tagebuch. Und Tagebuch zu schreiben ist manchmal eben nicht mehr, als Tagebuch schreiben.
Die Lautsprecher riefen die Reisenden für den Lufthansaflug nach Tel Aviv auf, sich zum Gate zu begeben. Sie rührte sich nicht. Sollen sie mich doch namentlich rufen, dachte sie, bestellte noch einen Likör, ich will meinen jüdischen Namen hören, wie er über den ganzen Flughafen in Berlin schallt. Zehn Minuten später war es so weit. Miss Benbenisti, Miss Benbenisti wird gebeten, sich umgehend zur Hütte der Lebensretter zu begeben. Sie wusste, der Mossad-Agent würde heute nicht mehr kommen. Sie wusste, sie musste von dem Barhocker aufstehen. Aber sie konnte nicht. Ihre Glieder waren schwer, alles in ihrem Kopf drehte sich. Letzter Aufruf für Miss Benbenisti, lautete die Ansage, letzter Aufruf für Miss Benbenisti –
Durch den Nebel des Alkohols schien eine Einsicht in ihr auf: Er hat Recht, der Ansager hat Recht, das war der letzte Aufruf, bevor sie ihren Kopf wieder in die Schlinge schob von Arbeit, Haus, Arbeit, Haus, einem schnellen Fick unter der Woche und einem ausgiebigeren Fick am Freitagmorgen, von dem sie bestimmt schwanger werden würde, und sie würde sich freuen, nicht des Kindes wegen, sondern weil dies der Schleudersitz sein würde, der sie aus dem Radio hinauskatapultierte, und nach neun Monaten würde sie gebären und danach diese unendliche Müdigkeit und Zerstreutheit, die sie bei ihren Freundinnen beobachtete, und das dauernde Gerede davon, dass sie einen eigenen Laden aufmachen wollten für Kinderkleidung oder einen Spielladen, Gerede, das zwischen ihr und den andern Müttern bleiben würde und nie über den Spielplatz hinauskäme, wo sie ihr Kind immer wieder auf die Rutsche heben würde, in dieser Abgestumpftheit der Sinne, die nur manchmal von dem dringenden Wunsch, eine Vase zu zerschmettern, durchbrochen würde, oder sich selbst mit einer Nadel in die Fingerkuppe zu stechen und das Blut herausquellen zu sehen, oder den Wagen mit dem schreienden Kind auf dem steilen Abhang zu ihrem Haus für einen Moment loszulassen.
Sehr viel später bestellte sie einen doppelten Espresso, kippte ihn herunter, ging zum Schalter von Lufthansa und häutete sich. Sie erklärte der Dame dort, sie wäre am Terminal eingeschlafen und hätte ihren Flug verpasst, und bat sie darum, ihr Ticket auf ein anderes Ziel umzubuchen. Der nächste Flug nach Tel Aviv geht erst morgen, sagte die Dame, aber leider können wir Ihnen nur ein Drittel des ursprünglichen Flugpreises gutschreiben. Ich möchte gar nicht nach Tel Aviv, erklärte sie noch einmal, ich möchte Ihren nächsten Flug nehmen, egal, wohin und egal, was er kostet. Aber ist Ihr Koffer nicht schon unterwegs? Ich habe keinen Koffer, nur das da, sagte Inbar und zeigte auf ihre Tasche. Gut, sagte die Dame langsam, musterte Inbar mit einem Blick, als sollte man sie lieber einliefern, unser nächster Flug geht nach Teheran. Da haben wir noch ein paar freie Plätze. Und der danach?, fragte Inbar. Nach Peru.
Lili
Sagt, ihr wollt nach Peru, hatten die, die ihre illegale Einwanderung organisierten, sie auf dem Landungssteg angewiesen: Wenn euch jemand fragt, wohin die Reise
Weitere Kostenlose Bücher