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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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dem Schrank und überlegte sich, welche sie anziehen sollte. Sechzig Jahre sind seitdem vergangen, Großmutter, und vielleicht ha ben die Wasser der Sintflut sich verlaufen , und wir dürfen wie Vögel leben, alle paar Monate weiterziehen an einen angenehmeren Ort.
    *
    Also, wohin sollen wir an deinem letzten Tag gehen?, fragte ihre Mutter, nachdem Inbar zu ihnen hinaufgekommen war und mit ihr den Morgenkaffee getrunken hatte. Zwei Reiseführer und ein riesiger Stadtplan lagen schon ausgebreitet auf dem Esstisch.
    Einfach rumlaufen, ohne Ziel, sagte Inbar und war plötzlich traurig, dass dies ihr letzter Tag war. Das war zu früh für sie. Sie spürte noch immer, wie das unsichtbare Gitter sie daran hinderte, den Kern der Fragen zu berühren, um derentwillen sie gefahren war.
    Was heißt ohne Ziel?
    Komm, lass uns eine S-Bahn nehmen und einfach irgendwo aussteigen, an irgendeiner Station. Vielleicht mieten wir uns auch ein Fahrrad.
    Aber … Inbari … so verpasst du doch … das heißt … es gibt so viele Dinge, die wir noch nicht gesehen haben … schau mal … Der lange, gepflegte Fingernagel ihrer Mutter wanderte weiter über den Plan. Wir könnten eine Route machen vom jüdischen Museum über das Mahnmal von Broniatowski zu Gleis 17, denn du kannst ja nicht in Berlin gewesen sein, ohne Gleis 17 gesehen zu haben, von dort gingen die Transporte in die Lager …
    Wie der Sketch dieser Satire, dachte Inbar: drei Gedenkstätten zum Preis von einer.
    Also, wie sieht’s aus?, fragte ihre Mutter, den Finger noch immer auf dem Stadtplan.
    Ich würde sagen, dass wir den Reiseführer heute nicht mitnehmen. Inbar begann, den Stadtplan zusammenzufalten. Ich möchte, dass wir uns ein Fahrrad mieten und es einfach auf uns zukommen lassen.
    *
    Sie hatten es beinah geschafft. Ihnen blieben nur noch zwei Stunden, die sie in der Stadt gemeinsam verbringen mussten, dann die Rückfahrt mit der S-Bahn, Duschen, Packen, und ab zum Flughafen.
    Die spontane Radtour lief gut. Zufällig stießen sie sogar auf einen weniger bekannten Gedenkort. Eine Schulleitung im Bayerischen Viertel, das früher ein jüdisches Viertel war, hatte, so wusste ihre Mutter zu erzählen, ein Projekt ins Leben gerufen, in dessen Rahmen jedes Kind eine jüdische Familie, die früher im Viertel gewohnt hat, adoptiert, sich eingehend über sie informiert und zum Abschluss dieses Lernens einen Backstein auf den Schulhof legt, auf den es in seiner Handschrift »Ich denke an Familie Hartmann« oder »Ich denke an Familie Schwarz« schreibt.
    Es waren lange, sehr jüdische Minuten, die sie vor der kleinen Mauer standen, die einem das Herz zerriss. Dann liefen sie weiter, langsamer, eine Straße entlang, an der mehrere Eisdielen lagen.
    Wenn nur nicht dieser Laden mit Kinderkleidung zwischen den Eissalons gewesen wäre. Wenn ihre Mutter nur nicht darauf bestanden hätte, abzusteigen und sich das Schaufenster in Ruhe anzuschauen. Wenn nur –
    Quatsch, dachte Inbar, der Streit hatte vom Moment ihrer Landung an zwischen ihnen gestanden, sie konnten eben nicht ohne einen hässlichen Streit, das war der vertraute Pfad, auf dem sie sich sicher fühlten.
    Schau mal, wie schön, sagte ihre Mutter, zeigte auf einen winzigen rosafarbenen Strampler.
    Nicht aktuell, schoss Inbar zurück und ging weiter.
    Hier gibt es wunderbare Kindersachen. Und viel billiger als in Israel, rief ihre Mutter, die wie angewurzelt stehen geblieben war.
    Freut mich zu hören. Können wir jetzt weiter? Inbar setzte schon einen Fuß aufs Pedal.
    Zum Schluss wird es wirklich nicht mehr aktuell sein, sagte ihre Mutter, die weiterhin gebannt vor dem Schaufenster stand.Zum Schluss wirst du Kinder wollen und keine mehr kriegen können.
    Vielleicht werd ich ja gar keine wollen? Sie spürte, ihr Fuß auf dem Pedal begann zu zittern. Wer sagt denn, dass ich muss? Gibt es dafür ein Gesetz, oder was?
    Bei den meisten Frauen ist das ein natürlicher Trieb. Wie um dies zu bekräftigen, betraten in diesem Moment zwei Frauen mit Kinderwagen den Laden, und für einen Moment drang die Musik einer Spieluhr an ihr Ohr und verstummte wieder, als die Tür sich schloss.
    Das macht mich fertig, Hanna, sagte Inbar.
    Sie benutzte absichtlich Mutters Vornamen, wie damals, bei ihrer großen Rebellion mit sechzehn, an deren Ende sie nach Eilat abgehaun war.
    Das macht mich fix und fertig, dass du mit deinem ganzen Doktorat manchmal dermaßen primitiv sein kannst. In Europa kriegt die Hälfte der Frauen keine Kinder. Willst du

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