Neuland
Hafens Konstanza lagen schon in weiter Ferne, wie das Funkeln kleiner, namenloser Sterne. So standen sie lange da, sogen die salzige Luft ein, wurden ein bisschen nass von verirrten Tröpfchen und lauschten den Wellen, die schläfrig gegen den Schiffsrumpf klatschten. Lili dachte, es kommt selten vor, dass man so entspannt und ohne jede Anstrengung mit einem Menschen schweigen kann, den man erst so kurz kennt.
Nachdem auch das letzte Flackern am Horizont verschwunden war, hob Esther die Hand und winkte zum Abschied ins völlige Dunkel. Ein kurzes Winken, nicht die theatralische Geste einer Schauspielerin. Vielmehr ein Winken, bei dem die Hand nah beim Herzen bleibt.
Lili tat es ihr nach. Und für einen Moment hatte sie den Eindruck, es wäre ihr bisheriges Leben, das da davonsegelte.
Inbar
Ihr Flugzeug kreiste über dem Flughafen von Lima. Wegen des Wetters gebe es keine Landeerlaubnis, erklärte der Pilot und teilte zunächst eine Verspätung von fünfzehn Minuten mit. Danach zwanzig. Danach teilte er nichts mehr mit. Vielleicht ist das wie die Geschichte vom Fliegenden Holländer , dachte Inbar, auf unserem Piloten lastet ein Fluch, und wir bleiben für immer und ewig in den Wolken, kommen nie mehr auf dem Boden an, kommen nie mehr an.
Die Anschnallzeichen leuchteten auf, man durfte also nicht mehr aufstehen, und trotzdem standen zwei junge Männer auf dem Gang zwischen den Sitzen. Israelis natürlich. Diese Frechheit und diese Schutzklappe über den Armbanduhren, die man beim israelischen Militär trägt, verrieten sie sofort. Einer von ihnen kam ihr bekannt vor. Vielleicht ein Freund von Joavi? Er spürte, dass sie ihn anstarrte, und schickte einen taxierenden Blick zurück. Nein, kein Freund von Joavi, entschied sie, obwohl das Alter stimmte. Denn wenn Joavi noch leben würde, wäre er jetzt mit der Armee fertig und würde eine richtig große Reise machen. Nicht wie seine Schwester, die sich mit drei Wochen Europa begnügt hat. Er würde mit seiner Gitarre losziehen und würde die Reise vielleicht sogar mit Straßenmusik finanzieren. Es gab Leute, für die sollte man das Timing umkehren. Erst sollten sie reisen. Zur Armee konnten siedann immer noch. Wenn Joavi gereist wäre – sie wusste wohl, wie trügerisch diese Wenn-Sätze waren, doch der lange Aufenthalt in der Luft hatte ihre Widerstandskraft gegen sie geschwächt –, wenn er eine Reise gemacht hätte, hätte ihn das gestärkt, er hätte angefangen, mehr an sich zu glauben. Es hätte die Kluft zwischen dem, was er spürte, und dem, was er nach außen ließ, verringert.
Am Schabbat vor der Hiobsbotschaft – kaum zu glauben, wie lang sie nicht mehr daran gedacht hatte – war sie gar nicht nach Haifa zu den Eltern gefahren, weil Professor Hoffmann sie am Ende der Stunde in das Eckchen am Ende des Ganges des Instituts für Islamwissenschaft mitgenommen hatte, sie auf den Mund geküsst, am Hintern gepackt und gesagt hatte: Großer Gott, ich bin in dich verliebt, weißt du das? Und dann hatte er gemeint, er werde am Schabbat-Vormittag wohl ein paar Stunden frei kriegen – diese Worte benutzte er immer. Als lebte er im Maassiahu -Gefängnis und nicht in einem renovierten Penthouse in Ma’os Aviv – und sie hatte ihre Eltern angerufen und gesagt, sie würde nicht zum Freitagabendessen kommen, sie habe zu viel fürs Studium zu tun, und ihre Mutter hatte gesagt, aber Joavi kommt von der Armee nach Hause! Und sie hatte – wenn man doch bloß bei Gesagtem die Undo -Taste drücken könnte! – mal wieder zugestochen: Na und, müssen deshalb alle strammstehn? Ihre Mutter hatte ihre Verzweiflung in den Hörer geschnauft, etwas, das sie nur Inbar gegenüber machte, und den Vater vorgeschickt, und der hatte, wie immer, in seiner weichen Stimme das Richtige gesagt, dass sie beide sich auch nach ihr sehnten und sie sehr gern sehen wollten, und wenn ihr das helfen würde, dann würde er sie nach dem Abendessen zurück nach Tel Aviv fahren, und wieder hätte sie ihm beinah von Professor Hoffmann erzählt, doch sie schluckte diese Geschichte runter wie aufsteigende Magensäfte, denn sie wusste, wenn sie ihm davon erzählen würde, wäre alles aus, und nicht nur das, er würde zu Hoffmann nach Hause gehen und ihm vor seiner Frau und seinen Kindern eine Szene machen, wie damals, in der achten Klasse, als sie sich verplappert hatte, dass so ein Hallodriaus Neve Schaanan nach den Treffen der Jugendgruppe in Samis Borekas auf sie warte und sie ärgere, und ihr Vater
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